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Archiv-Artikel

INDUSTRIEGESCHICHTEN ERSETZEN INDUSTRIE Musealisierte Landschaften

„Die Agfa-Orwo-Story“ als Begleitmusik zur Privatisierung

VON HELMUT HÖGE

Berlin soll reindustrialisiert werden. Nach der Abwicklung der meisten Industriebetriebe häufen sich aber erst einmal die Industriemuseen und -Biografien. Wegen der noch unsicheren Deutungshoheit des Westens über den Osten schwanken die Autoren dieses Genres zwischen (proletarischen) Betriebs- und (kapitalistischen) Unternehmensgeschichten.

Während in den USA die Legenden der erfolgreichsten Unternehmer von ihnen selbst erzählt und veröffentlicht wurden (Rockefeller, Morgan, Carnegie, Ford etc.), entstanden die Betriebsbiografien nach der russischen Revolution auf einen Vorschlag von Maxim Gorki. Während Erstere die „Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte“ herausstrichen, ging es den Autoren, die Gorkis Idee folgten, eher darum, das „Kollektiv der Werktätigen“ umfassend darzustellen. Und während es westdeutsche Unternehmer den Amis nachtaten („Die Neckermanns“, „Bertelsmann“, „Burda“), wurden in der DDR regelmäßig biografische Abschnitte – aus den Betrieben und Kombinaten heraus – veröffentlicht. Zuletzt auch noch einige üppige Bildbände. Erinnert sei an die Narva-Biografie „Arbeiter machen Geschichte“ und die der Bischofferoder Kaligrube Thomas Müntzer: „Bergmannstaten – Bergmannsglück“.

Nach Abwicklung der Werke durch die Treuhandanstalt entstanden in einigen leeren Hallen Betriebsmuseen – als eine Art Fortsetzung der kommunistischen Traditionskabinette in den früheren Kombinaten und Volkseigenenen Betrieben, nur dass die Museen nun quasi für sich allein stehen: in Oberschöneweide für die Technik der dort geschlossenen Großbetriebe und in Guben etwa zur Erinnerung an die ehemalige Hutfabrik. Von da aus dauerte es nicht lange, bis von den Industriemuseologen die ersten Werksbiografien veröffentlicht wurden, oft mit einer Feierstunde verbunden. Das gilt in Ost und West.

So wurde zum Beispiel die etwas zu leichte Geschichte der AEG – „Aufstieg und Niedergang einer Industrielegende“ – im Französischen Dom vorgestellt, die kiloschwere Geschichte des Hapag Lloyd – „Unser Feld ist die Welt“ (1847–1997) – im Hamburger Rathaus und die schöne Biografie des Stahlwerks in Eisenhüttenstadt – „Einblicke. 50 Jahre EKO Stahl“ – auf dem Werksgelände.

Die bisher umfangreichste und interessanteste Betriebsbiografie kam 2009 ganz ohne Feier aus. Sie handelt von der Großbaustelle des Mansfeld-Kombinats in Kriwoi Rog/Ukraine zur Errichtung eines „Bergbau- und Aufbereitungskombinats“ (BAK). Die Baustelle wurde in der Wende von der BRD übernommen – und dann unfertig abgewickelt. Es fanden sich nun 60 Autoren, die über ihre Arbeit dort berichteten, ihr Kollektivwerk heißt: „Das eiserne Problem des Sozialismus. Ukrainisches Erz zum hohen Preis“.

Vergangene Woche stellten nun zwei Historiker in der Möwe, dem einstigen DDR-Künstlerklub und jetzigem Domizil der Landesvertretung Sachsen-Anhalt, eine weitere Betriebsgeschichte vor: „Die Agfa-Orwo-Story. Geschichte der Filmfabrik Wolfen und ihrer Nachfolger“. Initiiert hatte diese Biografie die landeseigene MDSE (Mitteldeutsche Sanierungs- und Entsorgungsgesellschaft), die Quasirechtsnachfolgerin der Filmfabrik. Ihre Aufgabe ist die Boden- und Grundwassersanierung, außerdem versucht man die Liegenschaften „wieder in Umlauf zu bringen“, wie der MDSE-Geschäftsführer deren Privatisierung nannte. Bisher haben sich neben dem Filmmuseum, das eine eigene Schriftenreihe herausgibt, mehrere Solarenergiefirmen auf dem ChemiePark Bitterfeld Wolfen angesiedelt – auch Solar-Valley genannt. Dort wird das Licht nun nicht mehr in bunte Bilder, sondern in reine Energie umgewandelt.

Als nach der Abwicklung der Filmfabrik 1997 noch alles unklar war, fand im Orwo-Verwaltungsgebäude bereits eine erste Ausstellung statt, die eine Rückschau darstellte. Dazu gab es auch schon einen Katalog, „Land der Arbeit“ betitelt. Jetzt, da Sachsen-Anhalt die höchste Arbeitslosenquote aller Bundesländer hat, nennt es sich absurderweise „Land der Frühaufsteher“. Dabei öffnen die rund 850 Industriemuseen dort alle erst um 10 Uhr.