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Archiv-Artikel

IN ÖSTERREICH ZEICHNET SICH EINE GROSSE KOALTION AB Schüssels später Realismus

Wochenlang führte er sich auf wie weiland Gerhard Schröder nach verlorener Wahl. Wolfgang Schüssel konnte sich nicht damit abfinden, dass seine Partei vom Wähler auf die Rolle des Juniorpartners verwiesen wurde. Er mauerte, spielte beleidigt und wollte sich zuerst überhaupt nur auf Gespräche mit SPÖ-Chef Alfred Gusenbauer einlassen, wenn alles so bliebe wie bisher. Das größte Entgegenkommen gegenüber den Sozialdemokraten sei, so Schüssel auf eine Reporterfrage, dass man überhaupt mit ihnen verhandeln wolle.

Dann setzten SPÖ, FPÖ und Grüne im Parlament zwei Untersuchungsausschüsse ein und provozierten so die Blockade der ÖVP. Auf eine Dreierkoalition mit Grünen und Freiheitlichen wollten sich weder ÖVP noch SPÖ einlassen. Eine Minderheitsregierung, die sich einige Monate wechselnde Mehrheiten im Parlament suchen müsste, um dann Neuwahlen anzusetzen, gewann anschließend für die SPÖ zunehmend an Charme. Es geht auch ohne ÖVP, war das Signal. Gusenbauer konnte ein Ultimatum stellen und Schüssel den Schwarzen Peter zuschieben. Schüssels Schwenk dürften die jüngsten Umfragen veranlasst haben.

Die ÖVP-Deutung, wonach das Wahlergebnis gleichsam nur ein Versehen des Wahlvolks gewesen sei, das bei nächster Gelegenheit korrigiert werden könnte, wird nicht bestätigt. Im Gegenteil: Verärgerte Bürgerinnen und Bürger machen die Christdemokraten für das allfällige Scheitern von Koalitionsverhandlungen verantwortlich. Gegenüber dem 1. Oktober hat die SPÖ klar zugelegt, die ÖVP weiter verloren.

Dazu kommt, dass Schüssels harter Kurs innerhalb der ÖVP keineswegs ungeteilte Zustimmung findet. Die potenziellen Königsmörder ließen ihre Dolche bereits deutlich aus den Gewändern aufblitzen. Doch Schüssel wäre nicht Schüssel, hätte er nicht gleich nach der gemeinsamen Erklärung mit der SPÖ eine zusätzliche Option aufgebaut. Ein Treffen mit FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache soll deutlich machen, dass auch ein Rechtsbündnis mit Freiheitlichen und deren Abspaltung BZÖ rechnerisch möglich ist. RALF LEONHARD