IN DER U-BAHN : Es gibt ihn doch
Am Moritzplatz steigt ein Mann in die U-Bahn. Er hält sich an der Mittelstange fest und sagt ein Gedicht auf, „Einsamkeit“ von Heinz Erhardt, mit Tom-Waits-Stimme. „Einsam irr ich durch die Gassen, durch den Regen, durch die Nacht. Warum hast du mich verlassen, warum hast du das gemacht?“ Es gibt ja echt bessere Lyrik, aber es wirkt alles sehr authentisch. Kann man nicht meckern. Der Mann bittet um „nen kleenen Obolus, was zu essen oder ein Küsschen“. Ich gebe ihm 50 Cent, jemand anders eine Mandarine. Kein Küsschen. Er sagt danke und steigt aus.
Stefan meinte mal, man sollte so eine Aktion machen: kaputte Klamotten anziehen und mit ’nem Becher Kleingeld durch die U-Bahn ziehen und immer sagen: „Schuldijen Se die Störung, meine Daamundherrn, ich hab leider zu viel Geld und versuche auf diesem Wege, etwas davon auf ehrliche Art loszuwerden. Ich trinke nicht und nehme keine Drogen. Wenn Sie mir also helfen könnten, nur 50 oder 20 Cent, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Eine gute Weiterfahrt noch.“ Und dann mal gucken, wie viele Leute da mitmachen.
Ich finde die Idee gut, will aber, dass das jemand anders macht, weil ich eh schon pleite bin. Oder wäre es noch subversiver, wenn ich das mache? Den Dispo verschenken?
Zwei Jungs steigen ein, vielleicht elf Jahre alt, der eine sagt zum anderen: „Ey, willst du sehen, isch zeig dir arschkrasses Bild.“ Ich werde ganz neugierig. Der Junge sucht auf seinem Smartphone. Na los, zeig schon! Dann hat er es. „Ey, du glaubst, es gibt kein Weihnachtsmann? Dann guck hier“, sagt er zum anderen. Er hält ihm sein Handy hin, ich gucke mit drauf: Er hat in der U-Bahn einen alten Mann mit dickem grauem Bart fotografiert. Ich muss lachen. Die Jungs sehen mich an und drehen das Handy weg von mir. Als hätte ich sie beim Pornogucken ertappt. Mir wird ganz weihnachtlich.
MARGARETE STOKOWSKI