IN DEN USA WIRD ÜBER RASSISMUS DISKUTIERT : Diskurs oder Demagogie?
MICHA BRUMLIK
Sich vorzustellen, dass Kanzlerin Merkel oder Bundespräsident Gauck anlässlich der NSU-Morde gesagt hätten, diese Opfer hätten auch wir sein können, ist unmöglich. Weder hätten sie selbst so viel Empathie aufgebracht noch wäre die Aussage zutreffend gewesen: Der NSU wollte ja Immigranten mediterraner Herkunft ermorden. Anders Barack Obamas Kommentar zum Tod des schwarzen Jungen Trayvon Martin, der durch den Vigilanten George Zimmerman herbeigeführt wurde. „Trayvon Martin“, so der Präsident, „das hätte auch ich sein können – vor 35 Jahren!“
Kein Zweifel, in Deutschland gibt es Rassismus im Alltag und in der Politik: auf dem Wohnungsmarkt, beim Einlass von Diskotheken, auch im kriminellen Untergrund, bei der brutalen Außengrenzenpolitik der EU sowie dem demagogischen Diskurs über legale Zuwanderer vom Balkan. Indes: Die USA sind im Unterschied dazu eine rassistische Gesellschaft oder vorsichtiger: eine Gesellschaft, die vom Rassismus geprägt ist und an ihm leidet. Das macht nicht nur Obamas Aussage deutlich, sondern auch das erstaunliche Urteil des Supreme Court, ein Gesetz für erledigt zu erklären, das die Wahlkreisaufteilung minderheitenfreundlich gestalten sollte. Ein Blick auf die mehr als zwei Millionen Gefängnisinsassen zeigt, dass 40 Prozent von ihnen Schwarze sind – bei einem Bevölkerungsanteil von 12 Prozent. Dass die Polizei „racial profiling“ betreibt, ist auch kein Geheimnis; die meisten Bildungsforscher sind sich einig, dass Schwarze im Bildungssystem nach wie vor strukturell massiv benachteiligt werden.
Demgegenüber mag man einwenden, dass dies in den USA wenigstens offen, ja streitig verhandelt wird, während der Rassismus in Deutschland verschwiemelt unter den Tisch geredet wird. So bedurfte es der Deklassifikation britischer Geheimprotokolle, um zu erfahren, dass der damalige Kanzler Kohl in den 1980er Jahren die Hälfte der türkischen Immigranten in Westdeutschland in die Türkei zurückschicken wollte. Gemessen daran, mag es erfrischend, sogar aufkärend wirken, wenn sich im amerikanischen Fernsehen – vom mittigen CNN über die rechts stehenden Fox News bis zu dem eher linken MSNBC – nicht nur die Moderatoren angreifen, sondern die rechten Frontleute von Fox der schwarzen Bevölkerung selbst die Schuld an ihrer Misere geben.
Am demokratischen Charakter dieser neuen, heftig geführten Debatte über „race“ sind freilich Zweifel angebracht: Was auf den ersten Blick erfrischend wirkt, dürfte sich schnell als Symptom einer noch nicht völlig sichtbar gewordenen Panikreaktion der unwiderruflich demografisch schrumpfenden weißen, angelsächsischen, meist protestantischen Bevölkerung entpuppen; als eine Panikreaktion, in der sich nicht nur die Furcht vor sinkendem Einfluss, sondern vor allem ein zunehmend aggressiver Widerstand gegen den Wohlfahrtsstaat ausdrückt. Dafür steht die Tea Party, deren Mitglieder dabei sind, die letzten Moderaten der republikanischen Partei bedeutungslos werden zu lassen, und alles daran setzen, das Land durch eine Blockade in der Haushaltspolitik unregierbar zu machen. In der alten Bundesrepublik, 1974/75, nannte man derlei – nach einer Geheimrede von Franz Josef Strauß – „Sonthofen-Strategie“.
Kurz: Die vermeintlich so ehrliche Debatte über Rassismus in den USA erinnert eher an die demagogischen Feinderklärungen der späten Weimarer Republik als an einen argumentativen, zivilgesellschaftlichen Diskurs. An diesen Debatten gibt es nichts zu lernen und schon gar nichts zu bewundern.
■ Micha Brumlik ist Publizist und Professor an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main