IM OBERDECK : Immer zur selben Zeit
„Guarda, le bandiere“, zwitschert das Mädchen. Am Breitscheidplatz hängen zur Deko bunte Wimpel herum, deren Farben die Kleine vom Fenster des Oberdecks aus sorgfältig registriert: „una bandiera gialla … una bandiera rossa … una bandiera azzurra …“. Was der Vater sagt, kann ich von meinem Platz aus nicht verstehen, aber es klingt ruhig und interessiert. Wie immer.
Wenn ich J. nach Charlottenburg in die Schule bringe, bin ich anschließend auf dem Kurfürstendamm unterwegs. Warte auf den Bus, vertiefe mich in die ebenso spartanische wie unbezahlbare Auslage von „Budapester Schuhe“, steige ins Oberdeck des 29ers in der Hoffnung auf Beinfreiheit. Manchmal ist ausnahmslos jeder Platz besetzt, dann warte ich gebückt, bis jemand aussteigt. Und nicht selten ist von allen Doppelsitzen der Fensterplatz belegt. Dann wiederum ist es etwas peinlich, sich neben jemanden zu setzen, ohne aufdringlich zu wirken.
Manche fahren immer zur selben Zeit wie ich. Wenn ich sie sehe, erinnere ich mich an sie, sonst nicht. Nur den italienischen Vater und seine Tochter habe ich ins Herz geschlossen, heimlich, versteht sich. Er hager, strubbeliger Vollbart, unaufgeregt. Sie puppenklein, neugierig und mit einer Stimme wie eine Piccoloflöte. Meist sitzen sie vorn hinter der Frontscheibe und kommentieren das Geschehen auf der Straße. Was sie unverwechselbar macht, ist ihr aufmerksamer, freundlicher Umgangston. Nicht nur mir fällt das auf, man sieht es an den Blicken.
Tauentzien, die beiden steigen aus. Im Oberdeck wird es voller, ich lehne den Kopf ans Fenster und hoffe, dass niemand sich neben den vermeintlich Schlafenden setzen will. Da draußen gehen sie, Vater und Tochter. Nein, sie hüpfen. Er scheint ihr auf den Gehwegplatten vorzumachen, wie ein Springerzug geht, zwei vor, einen nach links, zwei vor, einen nach rechts. Sie ist wirklich winzig. CLAUDIUS PRÖSSER