IM LIVESTREAM : Taksim zu Hause
Dienstagabend. Um „bei den größten Aufständen in der Geschichte der Türkischen Republik live dabei“ zu sein, schaue ich mir einen Livestream vom Taksim-Platz auf der Seite von Vice an. „Vice ist das erste kostenlose international verbreitete Lifestyle- und Szenemagazin der Welt.“ Die Hauptredaktion sitzt in New York, es gibt eine Dependance in Berlin. Oben auf der Seite blinkt die Werbung von „Red Bull“. Ein junger Augenzeugenreporter, Tim Pool, läuft stundenlang durch die Gegend. Um ihn herum Schlachtgetümmel, Rufe, Schüsse, Schreie. Weil der Reporter auch nicht genau zu wissen scheint, was los ist, verstärkt sich das Gefühl, dabei zu sein.
Auf der Seite von Vice gibt es viele Videos aus Istanbul, einen Bericht über einen schwulen Nazi aus Russland, außerdem Boulevard für junge Leute. Deutsche Pornostars werden gefragt, „was für Stellungen und Akte sie spenden würden, gäbe es eine Auktion zu Gunsten der Flutopfer“. Während amerikanische Pornomodels den Opfern des Tornados in Oklahoma Hardcore-Dildo-Shows, Analverkehr usw. spenden würden, sagen die deutschen Models: „Ein Strip wär da drinne, denk ich?“ oder auch: „Da würde ich vielleicht tanzen, strippen oder so halbnackt ein Auto waschen.“ Die Pornodarstellerinnen sehen alle ein bisschen muttihaft aus. Während ich den Artikel lese, merke ich gar nicht, dass der Vice-Stream unterbrochen wurde, wechsle auf einen türkischen Stream, der mit einer Canon-Werbung beginnt: „100 Likes für mein Foto.“ Später in der Nacht gucke ich zwei O-Ton-Livestreams ohne Kommentar. Der eine ist wohl von einem Hotel aus gefilmt, der andere etwas näher dran. Man sieht nicht viel. Zu hören sind Schüsse und die Sprechchöre der Menschen. Die Gesänge am Taksim-Platz im Livestream erinnern an das Techno-Lied von Ricardo Villalobos – „Enfants“. Ich denke, das sind meine Leute, und geh dann ins Bett. DETLEF KUHLBRODT