IM LADEN, DER NACH LIESL KARLSTADT BENANNT IST, HÄNGT DIE ZWEI-EINKAUFSTÜTEN-COLLAGE „LIDL KARSTADT“ : Nach der Gentrifizierung – oder Neuköllner Enlightment
VON SONJA VOGEL
Das Berliner Wochenende beginnt bekanntermaßen schon am Donnerstag. Warum? Keine Ahnung. Aber auch ich habe mich angepasst.
Und so schaute ich im Heimathafen Neukölln „Liga Terezin“, einen israelischen Dokumentarfilm, an, der sich auf die Spur des NS-Propagandafilms „Theresienstadt“ begibt. Vor allem geht es um die perfide Inszenierung des Fußballs im KZ: Häftlinge traten gegeneinander an und nur wenige der Spieler überlebten.
Anlässlich des 70. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz wurde der Film von den Fans von Tennis Borussia in dem Ballsaal gezeigt, in dem 1941 die Nazis enteignetes Eigentum jüdischer Neuköllner eingelagert hatten. Nun ist der Saal bis auf den letzten Platz belegt: 350 Leute sind es sicher. Die Aufnahmen aus Theresienstadt sind eindrücklich, Spieler und Zuschauer lachen und jubeln. Bei einem Match gerät dann das Krematorium ins Bild.
Die Stimmung ist merkwürdig. Mir will es einfach nicht gelingen, Teil der in zig Grußworten beschworenen „Fußballfamilie“ zu werden. Die Verwandtschaft der Besucher beweist sich im Dresscode: Hoodies, Hornbrillen, kecke Basecaps. Süß.
Am nächsten Abend Körnerkiez. Im Café Fincan spielt eine Jazzband mit so viel Twäng, dass gegenüber wütend ein Fenster zugeschlagen wird. Ein Stück weiter, im Liesl, der Kneipenschwester des Valentins Stüberl, verkosten wir Kreuzberger Bier: naturtrüb, wässrig und teuer, wie fast alle lokalen Produktionen. Benannt ist der Laden übrigens nach Liesl Karlstadt, der Partnerin von Karl Valentin. An der Wand hängt die schönste Collage von Neukölln: „Lidl Karstadt“ steht da auf zwei Einkaufstüten. Ich brauche lange, bis ich das verstehe.
Wir ziehen in die Emser Straße, wo es neuerdings Bars statt Kneipen gibt, Longdrinks statt Bier. Hinter einem langen Tresen stehen beleuchtete Scotch-Flaschen. Die Getränkekarten sind in Bücher geklebt. K. schlägt „Momo“ auf und ich ein Buch in grünem Leinen mit Goldprägung. Der Titel sagt mir nichts und ich bleibe auf Seite 1 hängen, Überschrift „Highballs“. (Passend wäre ja „Tender is the night“ von Fitzgerald, ein echter Highball-Roman, war es aber nicht.) Die Zitronenschale windet sich als gelbe Spirale am Strohhalm empor. „Wie schön!“, sage ich verzückt und meine Begleitung: „Keine Ahnung, ich trinke Bier.“ Der Kiez verändert sich schneller als Trinkgewohnheiten.
Spät in der Nacht gehen wir deshalb nachschauen, ob auf dem Rasen des Körnerparks noch die meterhohe Parole „Alles für alle!“ steht. Und tatsächlich: Wenn man von der Brüstung in den dunklen Park schaut, ist sie zu sehen. „Der Körnerpark hält nichts von seiner Aufwertung“, sagt K. zufrieden. Als wir nach Hause gehen, pinkeln zwei Männer jubelnd die breite Steintreppe hinunter. Sonst ist es ruhig.
Am Sonntag ist der Rasen dann schneeweiß. Ich setze mich erst mal aufs Sofa und schaue Gymnastik-Tutorials. Zuerst „Yoga Quickie für den unteren Rücken“, dann „Gesunde Wirbelsäule: Pilates für Anfänger“. Dabei esse ich Schokolade. Sehr entspannend. Als ich mich dann doch aufmache, ist es dunkel, alle paar Blocks fällt ein dünner Lichtschein auf den Gehweg – er stammt von einsamen MacBooks in schummrigen Cafés. Ist das noch Gentrifizierung oder schon Neuköllner Enlightment?
Im Laidak läuft „Die Mörder sind unter uns“, ein Defa-Film von 1946. „Berlin 1945. Die Stadt hat kapituliert“, beginnt er und zeigt eindrucksvolle Bilder von Nazis und KZ-Überlebenden, die an expressionistische Filmproduktionen der 20er erinnern. Ein guter Ort, um entspannt einen Film zu schauen. Neben mir sitzt ein junger Mann stoisch über ein Buch gebeugt, das er aus einem der gut gefüllten Regale gezogen hat, während vor uns der Film flimmert. Irgendwann fängt er leise an zu schnarchen. Da wird mir klar: So sollte man den Sonntag verbringen.