IM CASINO : Schweiß auf der Lippe
Das Casino am Potsdamer Platz füllt sich langsam. Der Spielautomatenbereich ist völkerrechtlich aufgeteilt: Die rechte Ecke gehört den Asiaten (sie selektieren nochmals in Männer- und Frauenbereiche, die Frauen rauchen ihre ewig langen Zigaretten mit Spitze). Die linke den deutschen Männern mit Bauchansatz, Drei-Tage-Bart und Schweiß auf der Oberlippe sowie den deutschen Gelegenheitsspielern. In der Mitte sitzen bedauernswert aussehende Sekretärinnen oder Managergattinnen, oftmals russischer Herkunft, voller Schmuck und mit einer Leere im Gesicht, die – im Kino präsentiert – so manchen Filmpreis für schauspielerisches Ausnahmekönnen einheimsen würde. Die türkischen Spieler sind kaum wahrnehmbar, sie haben sich in die hinterste Ecke verzogen und umhüllen sich mit einer Schutzwand aus blauem Dunst.
Eine gewaltige Rolltreppe zerteilt die Halle in zwei Teile. Trotz allem setze ich mich, zahle meinen Einsatz und erhalte einen Stapel roter und grüner Jetons. Neben mir gewinnt jemand beim Roulette und ruft: „Glück im Spiel, Geld für die Liebe!“ Mit seinen knapp sechzig Jahren sollte er vielleicht bereits das ein oder andere Mal gehört haben, dass man Liebe nicht kaufen kann – auch wenn meine Kreditkartenabrechnung etwas anderes sagt.
Die Menschen um mich rum versacken langsam, beobachten das Treiben imaginärer Glücksfeen auf einem Computerbildschirm oder das hektische Umherpurzeln kleiner Kugeln, ich beobachte sie und ihre suchenden Blicke. Das Pokerspiel um mich herum ist in vollem Gange, doch ich hab nur Augen für die armen Teufel, bedaure ihre verfahrene Situation. Plötzlich ist mein Spiel beendet. Das Casino schließt. Ich hab 300 Euro verbraten, warte auf den Drei-Tage-Bart und wisch mir den Schweiß von der Oberlippe. Nur für den Bauchansatz bin ich noch zu jung. JURI STERNBURG