piwik no script img

ICH WEISS, WOVON ICH REDE: in DEM DORF TREIBEN ES DIE LEUTE SO BUNT WIE DIE IN DER STADT. BLOSS DIE KINDER, DIE SOLLEN NIE WAS MITKRIEGENHauptsache heimlich

Fremd und befremdlich

KATRIN SEDDIG

Erotik-Treff in Esterholz. Aufruhr im Dorfidyll“, weiß der NDR zu berichten. Es geht um einen Club, der dort entstehen soll, in dem sich Leute treffen wollen, um zu feiern und eventuell auch Sex miteinander zu haben. Club, das heißt, es geht um eine Art Gemeinschaft, man wird Mitglied, man kennt sich. Es solle aber kein Swingerclub werden, sagt der vielleicht baldige Betreiber, Klaus-Dieter Thuß-Könicke, sondern ein „Vereinsheim einer multifunktionalen Begegnungsstätte für Menschen zwischen 30 und 70 Jahren“. Aber irgendwie soll es doch auch mit Sex zu tun haben.

Thuß-Könicke betreibt bereits einen ähnlichen Club in Harburg: Die Gäste können Sex haben, wenn sie wollen, aber sie haben das freiwillig und unentgeltlich miteinander. Keine Prostitution also, wenn ich das richtig verstanden habe. Dennoch, Esterholz, das zu Wrestedt gehört – und das wiederum zur Samtgemeinde Aue im Landkreis Uelzen –, ist empört.

Ich kenne Dörfer wie Esterholz, ich bin in einem aufgewachsen. Ich weiß, wie moralisch die Dörfler sind. Sie treiben es mit der Schwägerin, dem Nachbarn, der Kollegin, im Kuhstall, während die Frau im Krankenhaus liegt, sie treiben es auf privaten Faschingspartys, die dann irgendwie entgleisen, wo Jutta und Klaus es plötzlich mal mit Jochen und Karin probieren, ups, und weil es so schön war, wiederholen wir das mal, nur die Kinder sollen nichts mitkriegen. Kriegen sie aber doch. Die Kinder auf dem Dorf wachsen mit genauso offenen Augen auf wie alle Kinder, sie reden zwar nicht mit ihren Eltern darüber, aber sie reden miteinander, untereinander, sie spionieren, sie gucken durch Ritzen, sie tuscheln, und so ab fünfzehn ungefähr fummeln die Jungen im Schuppen alle am selben frühreifen Mädchen rum, ich weiß ganz genau, wovon ich rede.

Die Dörfler treiben es genauso wie die Städter, nur sie treiben es privat und nicht in einem Club. Offen ausgelebte, sexuelle Freizügigkeit scheint ihnen unmoralischer als heimlich ausgelebte. Rufschädigend finden die Leute in Esterholz so einen Club. Lärm fürchten sie. Um die Kinder machen sie sich Sorgen. Was man denn den Kindern sagen solle. Immer wieder die Kinder. Wie die wohl entstanden sind? In ehelicher Liebe und Verbundenheit natürlich.

Um die Ecke, hundert Meter von meinem Wohnhaus, ist ein Bordell. Was ich meinen Kindern gesagt habe, als sie mich einst fragten, was das für ein komisches Haus sei? Ich sagte, es wär ein Puff. Da würden Frauen für Geld Sex mit Männern machen. Das ist vielleicht hart, aber wir leben in der Großstadt, die Welt ist kein Disney-Film. Wenn ich mit meinen Kindern im Winter an die Alster spaziert bin, da lagen da schon immer Obdachlose unter der Brücke, in der Eiseskälte, die Kinder sahen das, wie die Welt ist, und man kann nicht so tun, als ob sie anders wär. Die Welt ist ein Moloch, da gibt es Gewalt und Kriminalität, es gibt Armut, Elend und jede Menge Durchgeknallte, es gibt verschiedenste Arten von Sexualität, es gibt Liebe und Freundschaft, Kultur und Vergnügen. Das ist die Welt und die Kinder wachsen nicht besser in sie hinein, wenn man sie ihnen verklärt. Was soll also eine Elsterholzer Mutter ihrem Kind sagen? Dass da Leute sich vergnügen, erwachsene Leute. Vielleicht auch mit Sex. Vergnügen sich Elsterholzer nicht mit Sex? Ich vergnüge mich gern mit Sex.

Vielleicht, wenn man in der Natur wohnt, will man keine Party-People nebenan. Vielleicht wäre das der einzige Grund, den ich irgendwie verstehen könnte. Alles andere ist Heuchelei. Dieses Untersichbleiben-Ding. Auch deshalb kann ich nicht mehr in so einem Dorf wohnen. In der Stadt lebt man damit, dass ständig um einen herum Neues entsteht und man wird nicht gefragt, wie man das findet.

Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Eine Nacht und alles“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen