: Hyper, Hyper, Hysterie
Er lebt. Es geht weiter. Volle Pulle. Im Prozess gegen Michael Jackson spielen die Akteure ihre Rollen. Sie merken nicht: Das Theater kippt ins Trauma. In Santa Maria wird heute der 11. Akt gegeben
AUS LOS ANGELES HENNING KOBER
Er trägt eine blaue Pyjamahose. An den Füßen Badeschlappen. Das Gesicht vor Schmerz verzerrt. Seine Hand zittert. Vergangener Donnerstagmorgen, Michael Jacksons Ankunft in Santa Maria wird via „Breaking News“ auf allen großen Kanälen in die Küchen Amerikas gesendet. Es ist der Tag, an dem Gavin Arvizo, mutmaßliches Opfer sexueller Belästigung, zum ersten Mal als Zeuge vor der Jury sprechen soll. Jackson lässt sich auf dem Weg zum Gericht in die Notaufnahme einliefern. „Starke Rückenschmerzen“, so Anwalt Thomas Mesereau. Er läuft hilflos vor dem Gericht auf und ab. Richter Rodney Melville hat die Deadline gesetzt. Entweder Jackson ist um 9.30 Uhr hier, oder er unterschreibt den Haftbefehl. Sie rasen ihn mit Tempo 150 über den Highway. Drei Minuten nach Ablauf der Frist trifft er ein. Breite Leibwächter stützen seinen schwachen Körper. Das Bild schmerzt. Michael Jackson ist ein ruinierter Mensch. Aber er ist da, und alles geht seinen Gang.
Der Prozess in Santa Maria ist ein weltweit ausgestrahltes Unterhaltungsprogramm, das bisher größte der Menschheit. „E! Entertainment“, im Besitz des Kabelriesen Comcast und Disney, stellt den Prozess täglich mit Schauspielern nach. Die Zuschauer stimmen per Ted ab: schuldig oder unschuldig? Die Wahl der Jury im Februar war der Pilotfilm. Seit zwei Wochen läuft der Hauptfilm.
Tag 1
Montag, 28. Februar 2005. Richter Rodney Melville verliest die Anklageschrift. Auf www.thesmokinggun.com, betrieben von „Court-TV“, kann sie jeder nachlesen. Die drei Hauptvorwürfe: Gabe von Alkohol an einen Minderjährigen, unzüchtige Handlungen an einem Kind, Freiheitsberaubung zur Verschleierung. Alles soll Februar und März 2003 passiert sein. Dann hält Bezirksstaatsanwalt Tom Sneddon sein Eröffnungsplädoyer. Jackson erzähle gern, wie er Kinder mit Milch und Keksen ins Bett bringe. „In Wahrheit servierte er Wein, Wodka und Bourbon und schaute Sexmagazine mit ihnen an.“ Er habe mit Gavin einen Kusswettbeweb veranstaltet und mit ihm onaniert. Sneddon fragt: „Warum würde ein Erwachsener einem an Krebs erkrankten Kind mit nur einer Niere Alkohol zu trinken geben?“
Am Nachmittag kontert Thomas Mesereau: „Mein Mandant ist nicht Täter, sondern Opfer.“ Jackson sei die leichte Beute einer Familie professioneller Bettler, die sich, um ihre vorgebliche Armut zu dokumentieren, ihr altes Apartment in East Los Angeles hält, während sie längst in Beverly Hills wohnt. Viele Prominente aus der Entertainment-Industrie spendeten für das krebskranke Kind, sogar das LAPD sammelte Geld. Late-Night-Talker Jay Leno bekam einen Anruf des Jungen. Leno hörte die Mutter im Hintergrund einsagen und informierte die Polizei. Mesereau erinnert an den Prozess, den die Familie gegen das Kaufhaus J. C. Penny führte, wegen sexueller Belästigung nach einem Ladendiebstahl. Mit den erstrittenen 152.000 Dollar soll sich Janet Arvizo die Brüste vergrößern haben lassen.
Der Ted: 46 % schuldig, 54 % unschuldig
Tag 2
Dienstag, 1. März 2005. Mesereau setzt sein Plädoyer fort, kündigt an, Michael Jackson wird aussagen und von dem Tag erzählen, an dem er mit der Familie einen Film in seinem Kino auf Neverland anschaute. Danach ließ sich die Mutter auf den Boden fallen, rief: „Lasst uns alle für unserem Vater Michael beten.“ Mesereau sagt, die Kinder rannten wild in Neverland herum, fanden dabei die Sexmagazine, brachen in den Weinkeller ein. Sie merkten sich die elektrischen Codes, die Jacksons Karusselle starten. Warfen vom Riesenrad „Objekte auf Menschen und Elefanten“. Außerdem: „Michael Jackson wird frei zugeben, manchmal Männermagazine zu lesen.“
Die Anklage wirft Jackson vor, die Familie in Neverland festgehalten und sie zu Aussagen in einem Entlastungsvideo gezwungen zu haben. Der Film wurde für 3 Millionen Dollar vom Murdoch-Sender Fox gekauft und ausgestrahlt. Das sonst strikt konservative Fox präsentiert sich in den letzten Monaten als treuer und gut informierter Haussender des Jackson-Camps.
Der erste Zeuge wird geladen: Martin Bashir, inzwischen angestellt von Amerikas größtem Network, ABC, das zum Disneykonzern gehört. Er beruft sich bei den meisten Fragen auf sein Schweigerecht als Journalist. Mesereau wirft ihm vor, Jackson getäuscht zu haben. Er habe dem Sänger versprochen, ihn Kofi Annan vorzustellen. Der Jury wird Bashirs Film „Living with Michael Jackson“ gezeigt. Jackson hält sich ein Taschentuch vor die Augen. Bashir sagt: „Michael ist im Herzen ein Kind.“
Der Ted: 48 % schuldig, 52 % unschuldig
Tag 3
Mittwoch, 2. März 2005. Die Zeugin der Anklage, Ann Gabriel Kite, gibt ihren Beruf mit Spezialistin für „Krisenmanagement“ an. Sie wurde vom Jackson-Camp nach der Ausstrahlung des Bashir-Films angeheuert. Es war ihr zweiter Job. Nach sechs Tagen wurde sie wieder gefeuert. Sie sagt aus, einige Angestellte Jacksons werden bezahlt, „um ihn zu isolieren und in den Untergang schlittern zu lassen. Damit Sony seinen Beatles-Katalog zurück bekommt.“ Jay Leno, der von der Verteidigung als Zeuge benannt wurde, bittet Richter Melville, ihn von seiner Schweigepflicht zu entbinden. Er will in seiner Show Witze über Jackson machen.
Der Ted: 50 % schuldig, 50 % unschuldig
Tag 4
Donnerstag, 3. März 2005. Im Zeugenstand: Davellin Arvizo, Gavins 18-jährige Schwester. Sie bestätigt, Jackson trank mit ihrem Bruder Wein aus Cola-Dosen. Erzählt, wie Jamie Masada, Besitzer des Comedy Clubs in Hollywood, 2001 den ersten Kontakt zu Jackson herstellte. Wie der ihrer Familie einen Ford Bronco schenkte.
Der Ted: 32 % schuldig, 68 % unschuldig
Tag 5
Freitag, 4. März 2005. Die Jury sieht das Fox-Video. Davellin Arvizo sagt, die Dreharbeiten fanden eines Nachts im Haus des Kameramanns im San Fernando Valley statt. Sie will ein Skript bekommen haben. „Es war voller Lügen.“ Als Mesereau sie befragt, verstrickt sie sich in Widersprüche, muss zugeben, im Verfahren gegen P. C. Penny für ihre Mutter gelogen zu haben. Michael Jackson wird heute von seiner Schwester LaToya begleitet. Die beschrieb in ihrer Biografie wie Vater Joe Jackson sie sexuell missbrauchte.
Der Ted: 35 % schuldig, 65 % unschuldig
Tag 6
Montag, 7. März 2005. Star Arvizo, der 14-jährige Bruder, sagt aus. Nachdem „Living with Michael Jackson“ ausgestrahlt wurde, ließ Jackson die Familie für eine Pressekonferenz nach Florida fliegen. Auf dem Rückweg im Gulfstream des Comedian Chris Tucker trank Jackson mit Gavin erneut Weißwein aus einer Cola-Dose. „Jesus Juice“, nennt Star den Mix und erzählt, der Sänger habe über Gavins Kopf geleckt, „so in etwa 15 Sekunden“. Auch sah er, wie Jackson onanierte, seine Hand im Schritt des schlafenden Bruders. Sneddon lässt das Bild einer Ausgabe von Barely Legal an die Wand strahlen. „Hat Michael Jackson euch dieses Magazin gezeigt?“ – „Ja, das war es“, antwortet Star.
Der Ted: 44 % schuldig, 54 % unschuldig
Tag 7
Dienstag, 8. März 2005. Star Arvizo im Kreuzverhör. Auf Nachfragen Thomas Mesereaus muss er zugeben, im Verfahren gegen P. C. Penny gelogen zu haben. Mesereau zeigt der Jury eine Vatertagskarte, die Star an Jackson schrieb. Er unterzeichnete mit: „Love, your Blow Hole“. Mesereau fragt erneut nach Barely Legal. „War es das Magazin, das Jackson euch zeigte?“ – „Ja, natürlich“. Die Ausgabe erschien im August 2003, Monate nachdem die Jungen zum letzten Mal im Santa Ynez Valley auf der Neverland-Ranch waren.
Der Ted: 31 % schuldig, 69 % unschuldig
Tag 8
Mittwoch, 9. März 2005. Am Nachmittag tritt der Hauptbelastungszeuge, Gavin Arvizo, inzwischen 15, vom Krebs geheilt, in den Zeugenstand. Er erzählt, Jackson über ein Jahr nicht gesehen zu haben, als ihn der zu den Dreharbeiten mit Bashir einlud und sagte: „Du willst doch Schauspieler werden, heute ist dein Vorsprechen“. Auch habe Jackson mit ihm Pornoseiten im Internet angeschaut. Jacksons Frage, ob er sich selbst befriedige, habe ihn verunsichert. Jackson sagte: „Du solltest es versuchen, es ist ganz normal, jeder tut es“.
Der Ted: 43 % schuldig, 57 % unschuldig
Tag 9
Donnerstag, 10. März 2005. Gavin Arvizo sagt aus. „Michael Jackson brach mir das Herz.“ Er bestätigt, Jackson habe mit ihm onaniert. „Ich habe mich geschämt“. Es soll unter der Bettdecke passiert sein. Er sei dabei wach gewesen. Sein Bruder habe auf der Couch geschnarcht. Mesereau erinnert die Jury, der Junge sagte zum ersten Mal nicht bei der Polizei aus, sondern in der Praxis von Dr. Stanley Katz. Der Psychologe hat 1993 Jodie Chandler behandelt, den Jungen, dem Michael Jackson 25 Millionen Dollar bezahlte.
Der Ted: 52 % schuldig, 47 % unschuldig
Tag 10
Freitag, 11. März 2005. Die Anklage erklärt, Jackson schulde dem Finanzamt 150 Millionen Dollar und der Bank of America 270 Millionen, gesichert mit dem Beatles-Song-Katalog. Richter Melville entscheidet, die Jury wird Neverland nicht besuchen. Jay Leno darf in seiner Show weiter Witze über Jackson machen. Die Verteidigung kann den Prozess gegen P. C. Penny weiterhin thematisieren. Auch die Schönheitsoperationen der Mutter Janet dürfen weiter ausgeleuchtet werden.
Und weiter
Die ersten Loopings sind geschlagen. Die Wahrheit ist nach wie vor weit entfernt. Dieser Prozess wird sie kaum erzählen. Am Ende, vielleicht ist nach zwei Monaten schon alles vorbei, werden die Hauptakteure traumatisiert zurückbleiben. Michael Jackson? Vielleicht im Gefängnis. Vielleicht geflüchtet nach Bahrain, wo sein Bruder Jermaine lebt. Vielleicht tritt er bei der Fußball-WM in Deutschland auf. Gavin Arvizo? Vielleicht wird er reich. Vielleicht wird er als Lügner entlarvt. Diesen Prozess wird er sein Leben lang nicht mehr los. Und wir? Schauen überfordert die nächste Folge des Unterhaltungsprogramms. Der Wahnsinn geht weiter. Heute.