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Hüten Schlechte Bezahlung, miese Arbeitszeiten: Sven de Vries ist trotzdem Schäfer. Viel Geld brauchter nicht, viel Arbeit macht ihm nichts aus. Gegen die Einsamkeit twittert er unter @schafzwitschernDie Herde zieht weiter

von Veronika Wulf

Sven de Vries rennt um acht Uhr morgens mitten auf der Rosenstraße durch Ehingen. Hinter ihm rennen 723 Schafe und 22 Ziegen. Vorbei an weiß verputzten Einfamilienhäusern und gepflegten Vorgärten. Die Krempe seines schwarzen Schlapphuts wippt, die Ohren der Schafe flattern. Sven muss schnell sein, damit die Tiere weniger Zeit haben, Autos zu rammen und Blumenbeete zu zertrampeln. Den Gartenteich auf der rechten Seite aber übersieht er. Die Lämmer übersehen ihn nicht. Sofort driften sechs nach rechts und tauchen ihre Mäuler ins Wasser. Ihre Vorderläufe rutschen auf der Teichplane ab, sie stürzen vornüber hinein.

„Die schönen Seerosen!“, schimpft der Teichbesitzer. „Jedes Mal das Gleiche mit den Schafen!“, jammert seine Frau.

„Scheiße, Gartenteich!“, flucht Sven leise. Er hatte schon befürchtet, dass es Probleme bei der Stadtetappe geben würde. Am Morgen hatte er deshalb wortkarg den Kaffee getrunken, die Zigarette geraucht. Doch der sicherste Weg zur nächsten Weide führt eben durch die Stadt Ehingen am Rande der Schwäbischen Alb.

Zwei Stunden bevor die Lämmer in den Gartenteich plumpsen, sitzt er in einem klapprigen roten VW-Bus. Das Auto steht auf einem Hügel oberhalb von Ehingen. Vor ihm liegt das Schmiechtal, das er heute durchqueren muss. In der Linken hält er seine Kippe, in der Rechten sein Handy. Guten Morgen! tippt er auf dem Touchscreen. Bei uns steht die Stadtetappe an. Bin ein bisschen aufgeregt – und klickt auf „twittern“. Mehr als ­zweitausend Menschen folgen seinen Kurznachrichten unter @schafzwitschern. Sven twittert im Auto, beim Hüten, beim Essen, im Bett.

Schäfer sind meist allein. Sven kann gut allein sein, doch manchmal sucht er Wege in die Welt außerhalb seiner Herde. Mit Twitter will er den Beruf aus der Vergessenheit holen – und sich selbst aus der Einsamkeit.

Sven ist 34 Jahre alt, zwei Meter groß, drahtig, gebräunt. Über seinem Scheitel liegen irokesenförmig Dreadlocks, die Augenbrauen fast so buschig wie der Vollbart. Er hat schlecht geschlafen, sorgt sich um die Strecke, um die Mädels, wie er seine Schafe nennt.

Sven de Vries ist Wanderschäfer. Seine Herde ist das ganze Jahr unterwegs. Seit sieben Jahren stellt er sich mit „Sven der Schäfer“ vor. Unter Schäfern duzt man sich. Zusammen mit einem jungen Kollegen hat er vor einem Jahr eine Schäferei mit mehr als tausend Merinolandschafen übernommen. In den nächsten zehn Jahren wollen sie die Herde abbezahlen, mehrere hunderttausend Euro. „Vor fünfzehn Jahren wusste ich nicht mal, dass es noch Wanderschäfer gibt“, sagt er.

Aufgewachsen ist er in Hannover, besuchte dort eine freie Schule, an der die Kinder selbst entscheiden dürfen, ob und was sie lernen wollen. Bei ihm war es Fußball. Mit zwölf begeisterte er sich für Computerspiele, mit sechzehn fürs Kellnern. Irgendwann kollidierten Schule und Arbeit. Er brach die Schule vor dem Abitur ab. Vom Vater, einem EDV-Dozenten, lernte er zu programmieren, arbeitete für eine IT-Agentur. Nach einem halben Jahr stieg er wieder aus, weil ihn die Falschheit der Marketingleute abstieß. Er verlegte Fußböden, schleppte Umzugskisten, verkaufte Blechspielzeug auf dem Weihnachtsmarkt und verdingte sich als Aktmodell.

Dann verliebte er sich. Erst in eine Frau, die in einem Schafstall arbeitete, dann in die Schafe. Die Frau ist fort. Die Schafe sind geblieben. „Das mache ich jetzt für immer“, sagt er.

Damit ist er ziemlich alleine. 2014 haben in Deutschland nur zwölf Schäferlehrlinge den Abschluss als Tierwirt gemacht. Kein Wunder. Ein Schäfer verdient etwa 4,50 Euro Stundenlohn, freie Tage sind rar. Intensive Freundschaften ebenso.

„Da ist man zu Recht sauer“

Am Ende der Rosenstraße erreicht die Herde ihr Ziel, eine sumpfige Wiese neben dem städtischen Schrottplatz. Sven lässt sie bei Praktikantin Anja und fährt die Rosenstraße zurück. Der Gartenteich sieht jetzt aus wie ein Wasserloch. „Hallo, der Schäfer“, sagt Sven. Die Hände in den Hosentaschen vergraben, steht er vor der Frau des Gartenteichbesitzers wie ein zu großer Schuljunge. Die Frau grüßt nicht. „Wenn ich den anderen Weg nehme, kacken sie den Radweg voll, und das gibt auch wieder Ärger“, sagt Sven. Die Frau beruhigt sich. „Ich hab ja nichts gegen Schafe“, sagt sie. „Ich bezahle den Schaden“, sagt Sven. „Schon gut“, entgegnet die Frau, „die haben ja auch Durst bei dem Wetter.“

Erschöpft kommt Sven zu seiner Herde zurück, dreht sich eine Zigarette, greift zum Handy: Diesmal hat ein Gartenteich Wasser lassen müssen. In den Vorgärten steckt viel Arbeit und Liebe. Da ist man zu Recht erst mal sauer und enttäuscht, twittert er. Er sagt: „Ich will, dass andere einen Einblick bekommen in das, was ich da mache.“ Viele hätten ein falsches Bild von Schäfern. Der harte Hüter, der Wind und Wetter trotzt, fernab von Zivilisation und Moderne. „Aber wir sind keine Museumsstücke.“

Anja Sedelies hat er davon überzeugt. Sie ist Svens Praktikantin, 33 Jahre, kurze braune Haare, neben Sven wirkt sie klein. Das Ethnologiestudium hat sie kurz vor dem Diplom abgebrochen, den Job als Sozialarbeiterin mit Drogenabhängigen nach fünf Jahren. Drei Monate lang hat sie sich die Schäferei angeschaut, in ein paar Tagen endet ihr Praktikum.

Am Abend geht es weiter quer durch Ehingen. Sven lotst die Herde durchs Industriegebiet, unter der Bundesstraße 492 hindurch und den Hang hinauf auf die nächste Weide. Pause. Die Schafe grasen, eine Fläche wolliger Rücken, dicht an dicht. Es riecht nach Thymian und Kräutertee, nebenan rauschen die Autos auf der B492. Sven holt das Handy hervor. Auch die 2’te Etappe ist gut überstanden. Jetzt 2 Tage an der Bundesstraße hüten. #nichtsotoll.

Die Schäferei

Orte: Die Schwäbische Alb gehört zu den artenreichsten Flächen in Europa. Die Herden sorgen dafür, dass die charakteristischen Wacholderheiden und Kalkmagerwiesen nicht verbuschen. Schafe tragen Samen seltener Pflanzen im Fell und im Kot von Weide zu Weide.

Schafe: Heute gibt es noch gut anderthalb Millionen Schafe in Deutschland, vor 20 Jahren waren es doppelt so viele. Mit Wolle ist kein Geld mehr zu verdienen, der Preis liegt inzwischen fast gleichauf mit den Scherkosten. Geld verdienen lässt sich mit Fleisch. 120 Euro bekommt der Schäfer für ein 50 Kilo schweres Bio-Lamm.

Schäfer: 2014 haben in Deutschland zwölf Schäferlehrlinge den Abschluss als Tierwirt gemacht. Im Durchschnitt ist der Schäfer 56 Jahre alt, verdient 4,50 Euro in der Stunde und hat kaum freie Tage.

Er muss die Fläche beweiden, das ist in einem Pachtvertrag festgehalten. Für jede Wiese bekommt er Geld, für die Ziegen eine Extrasumme, weil sie die Büsche abfressen. Über die Hälfte des Umsatzes macht seine Schäferei durch diese Beweidung, den Rest bringt das Fleisch ein. Mit Wolle ist kein Geld mehr zu verdienen; der Preis liegt inzwischen fast gleichauf mit den Scherkosten.

Drei, vier Tage bleibt Sven während der Sommerweidezeit an einem Ort. Manchmal warten Bekannte auf ihn. Wie Karina Steudinger an diesem Tag bei der sumpfigen Wiese in Ehingen. Manchmal hilft sie beim Hüten. „Oifach, weil’s Spaß macht“, wie sie in weichem Schwäbisch sagt. Eine zupackende Frau, Ende vierzig, mit roten Wangen und ansteckendem Lächeln. Sven weiß nicht, wie alt sie genau ist, auch nicht, was sie arbeitet. Im vergangenen Herbst kam sie an einer Wiese, auf der seine Schafe weideten, vorbei, seither immer wieder.

Heute hat sie Kuchen mitgebracht. Und Malzbier. Svens Lieblingsgetränk. Kurz nach neun, die Sonne ist hinter bewaldeten Hügeln verschwunden, die Schafe lagern im Nachtpferch. Sven, Anja und Karina sitzen um den Kuchen im Gras in der Dämmerung, essen, trinken, quatschen. Die Stadtetappe ist geschafft, Sven redet wieder mehr, erzählt, wie er zum Bund kam. Wie er verpeilt hatte, zu verweigern. Wie er fünf Wochen keine Waffe anfasste und wie ihm jeden Morgen beim Marschieren das Barett vom Afro fiel. Die Truppe musste warten, bis er es mit Blümchen-Haarspangen festgeklemmt hatte. Karina hört zu, lacht. Sven erzählt. Als wären sie alte Freunde.

Doch für dauerhafte Bindungen fehlt ihm die Zeit. Zu Karina hat Sven einmal gesagt: „Wir können Zeit miteinander verbringen, aber ich kann nicht der beste Freund sein.“ Das ist okay für Karina. Ab und zu kommt er mit der Herde in ihre Gegend, ab und zu kommt sie vorbei, mit Kartoffelsalat, Fleischküchle oder Karamalz.

Vier Tage später, es ist Samstagvormittag, Praktikantin Anja verabschiedet sich von den Schafen. Sven wartet im Auto. Er sieht, wie sie sich die Tränen aus den Augen wischt. „Schon wieder eine Schafinfizierte“, sagt er lächelnd. Anja will eine Ausbildung machen, etwas mit Tieren. Am Bahnhof umarmt Sven sie zum Abschied.

Es ist Abend geworden über dem Schmiechtal. Hier hat Sven seinen Wohnwagen abgestellt. Mit Kreide steht darauf „der Schäfer“ und seine Handynummer, falls sich jemand über den Camper wundert. Das mobile Zuhause: dreißig Jahre alt, weiß, mit Gardinen, Sonnensegel, Gaskocher. Daneben, am Wiesenrand, haben Anwohner ein Festzelt aufgebaut: Luftballons und Tischdecken, Frauen im Dirndl, Kerle in Lederhosen. Aus den Boxen dröhnt Charts-Musik. Die Zwillinge Dennis und Philipp werden 30. Auch Sven ist eingeladen.

Er kommt um zehn Uhr abends, nach dem Hüten. Es ist immer ratsam, sich mit Anwohnern gut zu stellen. Sven holt sich ein Bier und stellt sich an einen Stehtisch vor dem Zelt. Normalerweise trinkt er keinen Alkohol. Nur beim Feiern, und das ist selten.

„Ah, der Schäfer!“, ruft ein Mann mit weißem Schnauzer. „Wie viel Schof hosch denn?“ „Insgesamt über tausend“, antwortet Sven. „Ond wie viel Mädle hosch dabei oder bisch alloi da?“ Der Schnauzermann lacht schallend. Dass der Schäfer oft mit einer Praktikantin unterwegs ist, regt immer wieder die Fantasie der Dörfler an. Sven kennt das.

Kaum eine Stunde später liegt er in seinem Wohnwagen.„Aaaatemlos“, schallt Helene Fischer durch die Nacht. Das Bett ist so kurz, dass er die Beine anziehen muss. Zum Einschlafen hört er ein Hörbuch. „Das Rad der Zeit“, ein Fantasy-Roman. Um 5.30 Uhr wird der Wecker klingeln.

„Oh oh oh, ES GEHT LOS!“

Am nächsten Mittag, wieder ein heißer Augusttag, sitzt Sven vor seinem Wohnwagen, die sechste Tasse Kaffee vor ihm, Obst, Müsli. Wie ist das eigentlich mit Frauen? „Alle vier Jahre treffe ich mal eine, bei der ich denke: Das wäre was, was Ernstes“, sagt er und dreht sich eine Zigarette. „Auf weniger lass ich mich gar nicht ein.“ Mit der Zungenspitze fährt er über das Papier, dreht es tütenförmig zusammen. „Solange ich bei den Mädels bin, ist die Wahrscheinlichkeit noch mal geringer, dass ich eine treffe.“ Er macht lange Pausen zwischen den Sätzen, zündet die Zigarette an. „Eigentlich wollte ich ja immer Kinder haben. Das kann ich mir langsam abschminken.“ Er wird immer leiser. „Aber das ist ja auch in Ordnung.“ Die Zigarette ist ausgegangen, ohne dass er daran gezogen hat. Das passiert Sven oft, wenn er redet. Er ist nie hektisch. Seine Zeitangaben lauten „irgendwann heute“. „Spätestens am Vormittag.“ „Gegen Abend.“ Zeiteinheiten eines Schäfers.

Am Abend nähert sich ein rasselnder Motor. Ein rostiger Toyota Pick-Up hält im Baumschatten. Ein großer Mann steigt aus, breites Kreuz, tätowiert, Rockerbart, Piratentuch auf dem Kopf. Er hat vier Hunde dabei, Hütehunde. Es ist Steffen Carmin, Svens Kollege, zwei Jahre jünger als er.

Wie ist das mit Frauen? „Alle vier Jahre treffe ichmal eine, bei der ich denke: Das wäre was Ernstes“Sven der Schäfer

Steffen setzt sich unter das Sonnensegel, nimmt die Flasche Lavendelöl vom Tisch, reibt sich die Hände ein. Die Schäfer bringen sich auf den neusten Stand: Sven erzählt von der Euterentzündung eines Schafes. Steffen erzählt vom Liebeskummer seines Lehrlings. Steffen war in Arnach, 70 Kilometer entfernt, wo der zweite Teil der Herde im Stall steht: trächtige Mutterschafe, Altschafe, Lämmer.

Eine Wolkendecke drückt auf die Weide bei Allmendingen, es ist düster, donnert und blitzt. Dicke Tropfen fallen auf dürres Gras, bald wird der Regen die Hitze der letzten Tage abkühlen. Sven und Steffen bewegen sich langsam zwischen den Leibern hindurch, zwei große, dunkle Gestalten. Hütehund Django treibt die Herde enger zusammen.

Sven bleibt stehen. „Da drüben!“, sagt er. „Ja“, sagt Steffen, nähert sich von hinten einem Lamm, zieht es mit dem Haken seines Schäferstabs am Hinterbein heraus. Sven packt es am Bein, zieht es zum Anhänger, hebt es hinein, schließt die Eisentür. Nummer eins. Steffen hat schon das nächste Lamm am Haken, betastet seinen Rücken, „nee, zu dünn“, lässt es wieder laufen. Noch am Abend liefert er die Tiere beim Schlachter ab, hundertzwanzig Euro bekommt er für ein fünfzig Kilo schweres Bio-Lamm. Er angelt ein anderes, Sven übernimmt, ziehen, heben, Tür zu. Nummer zwei. Nummer drei. Nummer vier. Die Mutterschafe drängen sich um den Anhänger, blöken. Nummer acht. Nummer neun. Neun Lämmer hat der Kunde bestellt. Sven steigt in den Hänger. Mit einer Zange knipst er ihnen Plastikmarken ins Ohr. Sven sagt: „Man darf nicht so viel darüber nachdenken, dass die wegkommen. Das macht alles nur noch schlimmer.“ Er isst gern Lammfleisch, am liebsten das eigene. Aber das Thema hängt ihm nach. „Ich kann wenigstens dafür sorgen, dass sie ein super Leben hatten“, sagt er.

So, das war vorerst mein letzter Tag bei den Schafen hier. Für mich geht’s zur Lammzeit. Einen schönen Sonntag euch, twittert er.

Draußen ist es längst dunkel, es schüttet, die Scheibenwischer flitzen über die Windschutzscheibe. Sven steuert den Wagen Richtung Allgäu, nach Arnach. Die nächsten zwei Monate wird er rund 240 Lämmern auf die Welt helfen.

Um elf Uhr abends erreicht er den Stall. Vier wurden schon geboren. Oh oh oh, ES GEHT LOS! Eigentlich viel zu früh. Hoffentlich geht alles gut :‘-( - hatte Sven getwittert. Im Stall duftet es nach frischem Heu. Er knipst das Licht an. „Määäh.“ Ein drei Tage altes Lämmchen liegt in der Ecke, mickrig. Der Hals scheint zu dünn für den schweren Kopf, am Körper stechen Rippen und Wirbel heraus. Sven nimmt es auf den Arm, misst Fieber. Erhöhte Temperatur. Danach geht er zum Schlafen in seinen Bauwagen.

Hier bei Arnach, einem 1.400-Einwohner-Städtchen, haben Sven und Steffen die Schäferkommune „die Arnacher“ gegründet, fünf Bauwagen im Halbkreis neben dem Schafstall. Ein Küchencontainer, Sofas, ein verwitterter Schaukelstuhl, eine Rutsche, Brennholz, eine Wäscheleine und ein Gärtchen, in dem Kürbisse, Sonnenblumen und Auberginen wachsen. Zur Kommune gehören noch Steffens Freundin Isa und Lehrling Philipp.

Svens Bauwagen ist rot, zweitausend Euro hat er gekostet, er hat ihn karg eingerichtet: ein Bett, davor ein Hundekorb, an der Wand Fotos von Hunden, Schafen, Freunden, eine Aktzeichnung von Sven, auf dem Bücherbrett liegt ein Roman: „Der letzte Schäfer“.

„Jetzt heißt es Glück haben“

Als Sven am nächsten Morgen in den Stall kommt, ist das Lämmchen tot. Kot und Stroh auf seinem weißen Fell, das Maul geöffnet, als sauge es an einer unsichtbaren Zitze. Er kniet sich auf den Boden, zückt sein Taschenmesser, schneidet die Vorderläufe und den Kopf ab. Dann häutet er das Tierchen und streift das Fell einem Zwillingslamm über. Erst an den Hinterbeinen, dann an den Vorderbeinen, über den Kopf – wie ein Overall.

„Du bekommst eine neue Mami“, sagt er. „Die hat Milch!“ Das getarnte Lämmchen schaut verdutzt. Es hat jetzt zwei Schwänzchen. Sven greift nach dem abgetrennten Kopf und reibt das Blut über Hals, Stirn und Schnauze des Lamms. Er wäscht sich die Hände, kramt sein Handy hervor. Da die Mutti von den ersten Zwillingen etwas wenig Milch hat und Mutti 2 nun kein Lamm mehr, versuche ich ihr eines unterzumogeln.

„Jetzt heißt es Glück haben.“ Er setzt das Schaf im Schafspelz neben die Mutter des toten Lamms. „Oh Mutti, da ist es ja wieder!“ Wenn sie es annimmt, dann behält sie es. Er sagt: „Sieht das niedlich aus. So hübsch. So hübsch“, als würde er sich selbst ermutigen. Das Schaf blökt, das blutige, rosa Lämmchen wirkt orientierungslos. Der Kadaver liegt auf dem kalten Stallboden.

Das Fell wird in den nächsten Tagen auf dem Lamm verwesen, das Mutterschaf wird sich erst an den Gammelgeruch gewöhnen, dann langsam an den Eigengeruch des Lamms. Wenn alles gut geht.

Zurück aus dem Stall, braucht Sven seinen Kaffee. Mit der Tasse setzt er sich auf den Ledersessel vor dem Kompostklo. Sein Lieblingsplatz. Steffens Freundin Isa, hochschwanger, wartet auf ihre Hebamme und isst eine Schale Müsli. Aus einem offenen Bauwagen wummert „Ding“ von Seeed, Lehrling Philipp sitzt oben ohne auf der selbst gezimmerten Terrasse und singt mit. Ein Praktikant wendet Pfannkuchen in der Luft. Sven blinzelt in die Sonne, raucht.

Als er wieder in den Stall kommt, steht das Lamm mit dem zweiten Fell unter der neuen Mutter. Es stupst gegen ihr Euter. Und trinkt.

Der Text entstand für die Zeitenspiegel-Reportageschule und ist für den Deutschen Reporterpreis nominiert

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