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■ Urdrüs wahre KolumneHolde Jugendschwärmerei

Mitten auf dem Gehweg plötzlich ein verkehrswidrig abgestelltes Kraftfahrzeug mit nicht nur Bremer Kennzeichen, sondern auch noch weiteren Definitionen zur Bestimmung des Halters. „Huchting grüßt den Rest der Welt“, „Teckelclub Gergweis“, „Baby an Bord“, „Heidepark Soltau“ und „SPD“. Ja fühlt man sich an der Basis denn immer noch als Staatspartei? Werden fällige Strafmandate immer noch bei der nächsten Versammlung im Ortsverein mit dem Genossen und Kollegen von der GdP gemeinsam vertrunken? The Party is over! Das Wesen der Kunst wurde jetzt im Kleinanzeigenteil einer bundesweit verbreiteten Tageszeitung für kluge Köpfe so beschrieben: „Abendländische Kunst – eine Investition in Schönheit, Harmonie und Beständigkeit. Rendite und Sicherheit mit Niveau und Prestige. Die Anlagestrategie mit langem Atem.“ So sindse! „Und geben wir für ihren Breughel gern zweitausend Schweinehälften in Zahlung und bieten für ihren Kirchner ein Grundstück in 1 b-Lage.“

Der ortsansässige Bundestagsabgeordnete Konrad Kunick genießt in Bonn die Wonnen des Dauercampers im Wohnwagen und grillt dort dem SPIEGEL zufolge gern mal ein paar Würstchen mit irgendwelchen Truckern. Und demnächst kommt er vielleicht nach Bremen, um seinen 2. Wohnsitz bei den Wagenburgfräuleins vom Hagenweg in Walle anzumelden. Dann wird dort Wasserspülung installiert, die Zivilisation eingeführt und das Verbot des Stehendpinkelns bei einer Enthaltung beschlossen. So schafft sich die neue Basis!

So nebenbei erfährt man im TAZ-Artikel über die verbleibende Gnadenfist für die letzten drei Weidedamm-Parzellisten, daß die langjährige Gartenheimerin Oma Mahler an dem Tag starb, als der erste Bagger anrollte. Und wir verstehen es ja nur zu gut, daß die ortsansässige Justiz kein Ermittlungsverfahren wg. vorsätzlicher oder zumindest fahrlässiger Tötung der stadtbekannten Katzenmutter aufgenommen hat, und wir wollen es auch dem Bremer Tierschutzverein nachsehen, daß er noch kein Oma Mahler-Waisenhaus für obdachlose Katzen aufgemacht hat: Wo aber bleibt der Solidaranschlag der Tierbefreiungsfront, die mit der 90-Jährigen ihre Protagonistin der ersten Stunde verloren hat? Und stellen wir hiermit die Eislaufhalle auf der Bürgerweide unter den Schutz dieses Engels der Tiere, verleihen dem Schlachthof den Ehrennamen „Volkshaus Oma Mahler“ und werden fürchterlich in unserem Zorn. Miau! und Amen!

Die Zeiten ändern sich und wir mit ihnen: Wäre vor Jahr und Tag der Anzeigenteil dieses Blattes noch die richtige Adresse gewesen, um auf eine Veranstaltung zum Thema „Sozialhilfe leicht gemacht – Dein gutes Recht!“ hinzuweisen, bewährt es sich jetzt als Zielgruppe für ethisch-einwandfreie Geldanlagen bei Fischmehlfabriken mit Rohstoffen aus delphinfreiem Fang und nun auch für den Informationsabend „Steuer sparen – aber wie“. Und wo es vorgestern noch hieß „Die Partei aufbauen“ heißt es jetzt immerhin noch „Vermögen aufbauen“.

Das muß ja wohl so sein beim Erwachsenwerden und die Vernunft kommt beim Chablis-Schlürfen von allein. Aber sollten wir nicht heute, an diesem Freitag, dem 6. Oktober 1995, holder Jugendschwärmereien eingedenk, in leichter Beschämung und mit sentimentalem Lächeln mal einen Hundertmarkschin einwerfen beim BBA-Laden oder beim AKAS in der Weberstraße oder am Hagenweg oder beim ollen Schlesches in der Mozarstraße, wo das Einwerfen von Scheiben bei Banken, Knastverwaltungen oder sonstigen Durchlauferhitzern der Marktwirtschaft gerade nicht so aktuell ist? Is ja albern? Bringt es nich? War ja auch nur mal so ein Vorschlag, können wir ja heute bei einem Grappa drüber reden, um es dann doch lieber sein zu lassen!

U. Reineking-Drückeberger

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