: Hoffnung in Diyarbakır
Am 12. Mai hat die PKK ihre Auflösung und das Ende des bewaffneten Kampfes verkündet. Ob das für die kurdische Bevölkerung in der Türkei auch zu mehr Freiheit und Gerechtigkeit führt, liegt nun an der Regierung Erdoğan

Von Wolf Wittenfeld
Es gibt zwei Städte in der Türkei, in der von den insgesamt 15 Millionen KurdInnen jeweils mehr als eine Million leben. Die eine ist Istanbul, in der die sie unter den mehr als 16 Millionen EinwohnerInnen etwas untergehen. Die andere Stadt ist Diyarbakır, die mit rund 1,8 Millionen EinwohnerInnen größte Stadt im überwiegend kurdisch besiedelten Südosten des Landes. Diyarbakır gilt schon lange als „heimliche Hauptstadt“ der KurdInnen in der Türkei. Hier haben die kurdischen Parteien ihre Hauptquartiere, von hier stammen die meisten Führungsfiguren der kurdischen Politik und hier werden die Trends der kurdischen Politik gesetzt.
Nachdem die PKK am 12. Mai ihre Auflösung und das Ende des bewaffneten Kampfes verkündet hat, sind in Diyarbakır die Erwartungen groß, dass das Leben freier und besser wird, als es in den letzten Jahrzehnten war. „Ich bin voller Hoffnung“, sagte Ayşe Serra Bucak in einem Interview mit dem ZDF einen Tag nach der „sehr wertvollen historischen Entscheidung der PKK“.
Bucak ist seit den Kommunalwahlen im März 2024 Co-Bürgermeisterin der Metropole. Ihre Vorvorgängerin, eine wichtige Funktionärin der Demokratische Partei der Völker (HDP), saß sieben Jahre im Gefängnis. Ihr unmittelbarer Vorgänger, ein bekannter Arzt, ist immer noch im Knast. Dennoch habe sie keine Angst, erklärte sie im Februar in einem Interview mit dem Schweizer Tagesanzeiger. Auf die Frage wie es nun weitergehen wird, sagte sie: „Wir brauchen nun Schritte zur Versöhnung zwischen den beiden Völkern. Viele kleine Schritte, die nun zunächst von der türkischen Regierung ausgehen müssen.“
Lange Jahre war das Amt des Bürgermeisters von Diyarbakır praktisch der wichtigste Posten, den eine PolitikerIn der kurdischen Nationalbewegung erringen konnte. Der erste kurdische Bürgermeister von Diyarbakır, der seine kurdische Identität in den Vordergrund stellte und damit auch die Wahl gewann, war 1977 Mehdi Zana. Damals glich die jahrtausendealte Stadt am Tigris vielerorts einem Trümmerhaufen. Aus Ankara gab es kein Geld für die Kommune, in der Altstadt flossen die Fäkalien durch offene Rinnen in irgendwelche Sickergruben oder gleich in den Tigris. Vor den alten, noch von den Römern gebauten Stadtmauern hausten in Elendsquartieren die Allerärmsten, die von den Großgrundbesitzern von ihrem Land vertrieben worden waren. Mehdi Zana war der Erste, der versuchte, eine Kanalisation in der Altstadt bauen zu lassen. Er kam nicht weit, denn im September 1980 putschte sich das Militär an die Macht und er wurde verhaftet. Er saß bis 1991 in verschiedenen Gefängnissen und ging nach seiner Entlassung ins Exil nach Schweden.
Doch damit war der Kampf für die kurdische Identität und Selbstverwaltung in Diyarbakır nicht beendet. Seine Ehefrau Leyla Zana blieb in der Türkei, engagierte sich ebenfalls in der kurdischen Bewegung und wurde zu Beginn der 90er Jahre als eine der ersten vier KurdInnen ins Parlament gewählt. Nach knapp zwei Jahren wurde ihre Immunität aufgehoben und sie inhaftiert, weil sie ihre Eidesformel als Parlamentarierin teilweise auf Kurdisch gesprochen hatte.
Die Repressionen änderten nichts daran, dass die kurdische Bewegung immer mehr zu einem politischen Faktor wurde. Vor allem in Diyarbakır wurden immer wieder VertreterInnen der kurdischen Bewegung ins Bürgermeisteramt gewählt, die ausnahmslos alle früher oder später im Gefängnis landeten. Parallel zu dieser demokratisch-parlamentarischen Entwicklung startete die 1978 gegründete PKK im Jahr 1984 ihren bewaffneten Kampf gegen die türkischen Sicherheitskräfte. Zu Beginn mit dem Ziel eines unabhängigen Kurdistans, später für eine nie genau definierte Autonomie.
Seitdem die kurdische Bewegung in den 90er-Jahren begann, sich an Wahlen zu beteiligen, wurden die legalen Parteien immer wieder verboten, woraufhin sie sich unter neuem Namen jedes Mal neu gründeten. Für sie war der Spagat zwischen der PKK-Guerilla auf der einen Seite und den staatlichen Institutionen, an denen sie ja teilhaben wollten, in den letzten 40 Jahren die größte Herausforderung.
Nicht nur in Diyarbakır stellt sich nun die Frage, wie es nach dem Beschluss der PKK, die Organisation aufzulösen und den bewaffneten Kampf zu beenden, weitergehen soll. Ganz praktisch, aber vor allem auch, wie eine Versöhnung zwischen KurdInnen und TürkInnen gestaltet werden könnte.
Der Co-Vorsitzende der kurdischen DEM-Partei, Tuncer Bakırhan, forderte am Dienstag die Regierung dazu auf, nun „vertrauensbildende Maßnahmen“ zu ergreifen. Noch vor Beginn des Opferfestes am 6. Juni solle die Regierung „humane, konkrete vertrauensbildende Schritte“ unternehmen. „Am meisten hören wir aus unserer Partei die Forderung nach der Freilassung von kranken Gefangenen“, sagte der DEM-Chef. Tuncer Bakırhan und Ayşe Serra Bucak sind sich einig, was nun passieren sollte: „Wir brauchen einen Friedensprozess, der einen klaren transparenten Fahrplan hat und alle miteinbezieht.“
Auch Özgür Özel, der Vorsitzende der CHP, der anderen großen Oppositionspartei, sagte am Dienstag, der weitere Prozess müsse nun transparent vom Parlament gesteuert werden. Keine Partei dürfe ausgeschlossen werden: „Ein sozialer Kontrakt ist essenziell für den Erfolg des Prozesses, alle müssen eingeschlossen sein, auch die Familien der gefallenen Soldaten.“ Zudem, verlangte Özel, dürfe es „geheime Verhandlungen zwischen der Regierung und der PKK nicht mehr geben“.
Ayşe Serra Bucak, Bürgermeisterin von Diyarbakır
Mit seiner Forderung nach einer inklusiven öffentlichen Debatte bezieht sich Özel auf die Erfahrungen während des gescheiterten Friedensprozesses 2015. Damals stand die Mehrheit der türkischen Bevölkerung den Verhandlungen mit der PKK skeptisch bis ablehnend gegenüber, was letztlich entscheidend dazu beitrug, dass es nie zu einer Umsetzung der damaligen Vereinbarungen kam.
Nun hatten die PKK und Präsident Recep Tayyip Erdoğan seit Monaten auf den Beschluss zur Auflösung der PKK hingearbeitet. Am Dienstag kündigte Erdoğan vor seiner Fraktion an, dass bald ein Fahrplan für die Auflösung bekannt gegeben würde. Die Freilassung Abdullah Öcalans, des seit 26 Jahren inhaftierten Führers der PKK, lehnte er vorerst ab. Auch von anderen vertrauensbildenden Maßnahmen ist keine Rede.
Stattdessen kündigte der Präsident an, dass nun der türkische Geheimdienst zusammen mit Vertretern des Iraks die Entwaffnung der PKK überwachen werde. An sieben Orten im Nordirak sollen die mehreren Tausend PKK-KämpferInnen ihre Waffen abgeben. Ob es für einen Teil von ihnen eine Amnestie geben wird, ob die Kader der PKK freies Geleit in ein Drittland bekommen, ist unklar. Vor allem bleibt völlig offen, ob Recep Tayyip Erdoğan die KurdInnen als gleichberechtigte BürgerInnen anerkennen wird, mit allen politischen und kulturellen Rechten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen