Hoffnung auf mehr Antiamerikanismus

Ein Gespräch mit dem Philosophen Ernst Tugendhat über den Golfkrieg  ■ Von Max Thomas Mehr

Sie haben in den 80er Jahren die Friedensbewegung unterstützt und sich selbst angesichts der Nachrüstungsdiskussion, der Ost-West-Konfrontation und einer zunehmenden Atomkriegsgefahr als „Nuklearpazifist“ bezeichnet. Ist das Problem eines drohenden Atomkrieges mit dem Ende der Ost- West-Konfrontation erst einmal erledigt?

Ernst Tugendhat: Erledigt nicht, aber zurückgetreten. Obwohl die jetzige Situation durch einen Umstand eine gewisse Ähnlichkeit mit der damaligen Situation hat: Das sind die Prophezeihungen ökologischer Katastrophen, die durch die Verbrennung der Ölfelder hervorgerufen werden könnten. Trotzdem sind der Typus Krieg und die Einstellung zum Krieg damals und heute doch unterschiedlich. Wir sind mehr am Rande involviert, als wir es damals waren.

Nun sind ja nicht alle Atomwaffen verschwunden. Wir erleben heute eine sich auflösende, destabilisierte Sowjetunion, die weiterhin im Besitz eines riesigen Atomwaffenpotentials ist. Entstehen da nicht neue, ganz unerwartete Gefahren?

Ja. Trotzdem glaube ich nicht, daß die Gefahr eines Atomkrieges zwischen dieser im Zerfall befindlichen Sowjetunion, die möglicherweise einem rechten Putsch entgegengeht — und das ist sicher eine Gefahr — und den Vereinigten Staaten besteht.

Wenn die Weltmacht Sowjetunion zerfällt, ihr Atomwaffenpotential aber weiter besitzt, muß man sich fragen, wer darüber eigentlich verfügt. Ist nicht die Gefahr evident, die von diesen Atomwaffen ausgeht? Konfrontationen, die sich daraus ergeben, müssen ja nicht in der alten Ost-West-Polarität verlaufen.

Ich habe darüber bisher noch nicht nachgedacht. Ich muß auch gestehen, daß ich die Gefahr immer eher von Amerika ausgehen sehe, und das ist auch jetzt so.

Der Golfkrieg ist ein Krieg am Beginn einer neuen Ära, nach dem Ende der atomaren Abschreckung. Wie beurteilen Sie diesen Krieg?

Es ist der erste große Krieg nach dem Ende des Kalten Krieges, und es ist naheliegend, daß nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation und der fortgesetzten Hochrüstung in den Vereinigten Staaten die Amerikaner sich auf den dann nächstliegenden Gegner stürzen.

Und das ist der Irak?

Es geht um das Nahost-Öl, dem ja auch während des Kalten Krieges ein wesentliches Interesse der Westmächte galt. Jetzt, da die Sowjetunion ihre Gefährlichkeit verloren hat, will der Westen mit dieser Sache aufräumen und mehr oder weniger die Macht über das Öl dort erlangen.

Sie haben Ihren Nuklearpazifismus in den 80er Jahren damit begründet, daß sich alle anderen Fragen und Werte unterordnen und die Frage nach einem gerechten oder berechtigten Krieg angesichts eines möglichen Atomkriegs nicht gestellt werden kann. Der Golfkrieg steht nicht in Gefahr, mit atomaren Waffen ausgetragen zu werden. Stellen sich da nicht Fragen nach einem gerechten, oder wie Sie damals schrieben, berechtigten Krieg? Geht es in diesem Krieg neben den ökonomischen Interessen auch darum?

Man muß beide Gesichtspunkte berücksichtigen. Die ökonomischen Ursachen und die vorgegebenen moralischen Gründe und Gegengründe. Bei den vorgegebenen moralischen Gründen und ihren möglichen Gegengründen geht es um die Frage des gerechten Krieges. Das läßt sich am Golfkrieg sehr gut darstellen. In allen Aussagen, die man hört, wird sehr deutlich, daß der kriegführende Westen das Öl als Grund nicht vorgeben kann: weil ein Krieg nicht mit zugegebenen ökonomischen Gründen geführt werden kann, sondern nur mit moralischen Gründen. Es ist interessant, wenn in diesem Zusammenhang die USA die Zurückhaltung Deutschlands mit dem Argument kritisieren, daß die Deutschen doch ein sehr viel größeres Interesse am Öl haben müßten. Diese Argumentation zeigt, daß der eigentliche Grund nicht der moralische ist, sondern das Öl.

Wie kann die Forderung einer sofortigen Beendigung der Kriegshandlungen damit verknüpft werden, die Unterwerfung Kuwaits zu verhindern?

Der vorgegebene moralische Grund für den Krieg — und das wird in anderen Ländern des Westens, in England und den USA ja noch sehr viel stärker betont — ist, daß die Weltgemeinschaft es nicht zulassen kann, wenn ein kleines Land von einem großen Land überfallen wird. Das ist ein gutes Prinzip. Man fragt sich aber, warum wird es nur in diesem Fall praktiziert und nicht dann, wenn die USA ein kleines Land überfallen, wie Panama, Grenada usw.? Und selbst wenn dieses Prinzip als maßgebend angesehen wird, kommen die Prinzipien der gerechten Kriegsführung zum Zuge. Da sind zwei Regeln zu nennen, die nicht eingehalten wurden und diesen Krieg zu einem Verbrechen machen, für mich zum größten Kriegsverbrechen seit Hitler (und ich sage das wegen der ungeheuren Konsequenzen): Erstens, es müssen alle nichtkriegerischen Mittel ausgenutzt werden, bevor zu Mitteln des Krieges gegriffen wird.

Diese Mittel sind ganz eindeutig nicht ausgeschöpft worden. Es sind von Frankreich und anderen Ländern Versuche gemacht worden, eine Brücke zu bauen, und das ist schroff von den Amerikanern zurückgewiesen worden. Zweitens gibt es die Regel der Proportionalität. Es ist unverhältnismäßig, wenn jetzt schon von 300.000 Toten gesprochen wird und es wahrscheinlich in die Millionen gehen wird. Wenn ein Land so total zerstört wird, wie im Zweiten Weltkrieg möglicherweise keines, mit Ausnahme vielleicht der Sowjetunion. All das, weil zugegebenermaßen Kuwait vorher vom Irak überfallen wurde. Es gibt für mich da überhaupt keine Zweideutigkeit. Mit diesem ungerechten Krieg muß sofort aufgehört werden. Von moralischer Seite her kann man das nur fordern. Moral ist ja nicht irgendein Abstraktum, sondern es geht um das ungeheure Leiden, das hier produziert wird. Darüber hinaus geht es um die mögliche weltweite ökologische Katastrophe, die in Kauf genommen wird.

Sie sprechen von 300.000 Opfern. Beide kriegführenden Seiten, auch der Irak, sprechen jedoch von bestenfalls ein paar hundert Opfern.

Ich möchte mich über Tatsachenhypothesen nicht weiter äußern. Es gibt Wahrscheinlichkeitsüberlegungen, die wir anstellen können. Was passiert, wenn solche Angriffe geflogen werden? Wenn, wie man weiß, die Nervengasanlagen, die atomaren Anlagen zerbombt werden und das Material austritt usw.? Aber in der Tat sind die Berichte über die Zahl der Opfer unbestätigt.

Man kann doch immer sagen, es sei nicht alles getan worden, um auf politischem, auf diplomatischem Weg den Konflikt zu lösen...

Das sollte eindeutig festgehalten werden. Saddam Hussein hat versucht, sein Gesicht zu wahren und sich aus der Affäre zu ziehen. Diese Möglichkeit ist ihm verwehrt worden.

Andererseits muß man sich doch auch der Frage stellen, welche Bedrohung von den im Irak angehäuften Waffen, dem Rüstungspotential für die ganze Region des Nahen Ostens ausgeht?

Das hätte man erstens abwarten können. Es bestand keine unmittelbare Bedrohung. Das einzige unmittelbar bedrohte Land war Saudi-Arabien. Diese Bedrohung hätte man sehr ernst nehmen müssen. Aber dieser Gefahr hätte durch Stationierung kleinerer Kontingente von amerikanischen Truppen begegnet werden können. Dann hätte Saddam Hussein ganz sicher nicht angegriffen.

Und die Bedrohung Israels?

Ein unmittelbarer Angriff auf Israel stand nicht bevor.

Saddam Hussein hat aber immer damit gedroht.

Damit haben alle Araber seit langer Zeit gedroht, und die Israelis hätten sich da selber verteidigen können. Sie waren darauf vorbereitet.

Es geht doch auch um eine Wertediskussion, um universelle Werte, Menschenrechte, Völkerrechte, die nach dem Ende der Ost-West-Polarität weltweit von einer Institution wie der UNO durchgesetzt werden müßten und die in einem Spannungsverhältnis zu ökonomischen Interessen stehen. Wenn man die universellen Werte ernst nimmt, bleibt die Frage, wie Länder des Südens ihre ökonomischen Interessen — Sie sagen ja, es geht im Golfkrieg ums Öl — gegen die Dominanz des Nordens gewaltfrei durchsetzen können. Es geht am Golf darüber hinaus auch um extremes Auseinanderfallen von Armut und Reichtum.

Im gegenwärtigen Fall kann ich dieses Problem nicht sehen, denn es geht nicht darum, daß sich der Süden gegen den Norden durchsetzen will, sondern darum, daß sich der Norden gewaltsam gegen den Süden durchsetzen will, und da gäbe es in der Tat Möglichkeiten, das gewaltfrei zu tun. Natürlich war die Situation von Saddam Hussein, die irakische Situation, eine besondere. Aber dies ist kein typisches Problem der Entwicklungsländer. Es geht zurück auf den iranisch-irakischen Konflikt und auf die enormen Waffenlieferungen des Nordens. Es liegt nur an uns und den Amerikanern und Alliierten, daß Irak diese Waffen hat. Und man hat sie dem Irak so lange geliefert, wie er in einem Krieg mit einem anderen dortigen Land war. Seit diesem Krieg hält man den Irak für so gefährlich, daß man das Land zerstört. Im übrigen halte ich Ihre Frage nach den universellen Werten für relativ beantwortbar. Ich glaube, es gibt einige Regeln. Man kann sagen, der Islam hat ganz andere Vorstellungen als wir, aber es gibt im Zusammenhang dieser Fragen einige Regeln, die ziemlich allgemein verbal anerkannt würden — auch wenn sie nicht befolgt würden. Und sie werden im jetzigen Krieg sehr eklatant vom Westen verletzt, sie werden natürlich auch teilweise vom Irak verletzt, und sie sind natürlich auch eklatant vom Irak gegenüber Kuwait verletzt worden.

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Die Frage ist nur, wie man auf diese erste Verletzung angemessen hätte reagieren können.

Hat die UNO versagt in diesem Konflikt?

Die UNO hat in einer Hinsicht nicht versagt. Es war für viele Nationen vielleicht etwas besonders Erhebendes, daß sich die UNO endlich einmal zu einem wirklichen gemeinsamen Schritt durchgerungen hat. Aber das Versagen liegt darin, daß sich erstaunlich viele Länder in eine weitgehende Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten begeben haben. Wie das zu erklären ist, weiß ich nicht. Aber das ist eines der interessanten Phänomene, und das ist es, was die Amerikaner zur Zeit anstreben: Sie wollen die unangefochtene Macht Nummer Eins sein.

Hat die UNO im Moment noch eigene Verhandlungsspielräume?

Sehr wenig. Sie hat die Handlungsvollmacht dem Westen übergeben. Wie gehandelt wird, das hat jetzt Bush in der Hand.

Dieser Krieg fällt in eine Zeit, in der es um eine neue Weltordnung, um eine neue Sicherheitsstruktur geht. Welche andere Institution als die UNO wäre denn beim Aufbau einer solchen Struktur denkbar?

Die UNO ist die Institution. Aber man muß unterscheiden zwischen formaler und faktischer Macht. Und die faktische Macht haben im Moment die USA.

Das Klima in der Bundesrepublik ist derzeit geprägt durch Friedensdemonstrationen — in der Hauptsache von Schülern — und andererseits durch antiamerikanische Parolen. Vor der eigenen Haustür wird hingegen sehr wenig gekehrt. Man kann natürlich sagen, die UNO hat versagt. Muß man nicht zumindest kritisch hinzufügen, daß die Bundesrepublik in der Golfkrise überhaupt keine Außenpolitik betrieben hat?

Ich kann mir die Parolen insofern zu eigen machen, als ich jetzt auch ganz entschieden auf antiamerikanischem Kurs bin. Ich rede ganz bewußt antiamerikanisch, wie man meiner Meinung nach ganz bewußt antideutsch sein mußte im Zweiten Weltkrieg. Man muß gegen die sein, die einen katastrophalen Krieg anzetteln. Antiamerikanismus bedeutet nicht, gegen die amerikanische Bevölkerung zu sein, sondern gegen die amerikanische Regierung und ihre Politik. Zweitens ist man in der Tat auch gegen manipulierte Meinungen in der amerikanischen Öffentlichkeit. Wir müssen uns gegen die Amerikaner wenden. Sie sind die treibende Kraft in diesem Krieg.

Wie bewerten Sie es, daß im wesentlichen die Bundesrepublik an der Chemiewaffen- und Giftgaswaffenproduktion im Irak beteiligt war — und das auch noch über das Embargo hinaus bis heute? Man kann ja leicht sagen, nicht alle politischen und diplomatischen Mittel zur Vermeidung eines Golfkrieges seien vom Westen ausgeschöpft worden. Aber was bedeutet eine solche Aussage angesichts der Tatsache, daß diese bundesdeutsche Regierung noch nicht einmal in der Lage war, ein Embargo gegenüber dem Irak zumindest bezüglich der Kriegswaffenproduktion im eigenen Land durchzusetzen?

Das finde ich furchtbar. Viel mehr kann ich dazu gar nicht sagen, weil ich die Mechanismen nicht verstehe, nach denen so etwas möglich ist.

Wie erklären Sie es sich, daß die Stimmung bezüglich des Golfkrieges in Europa so anders ist als in der Bundesrepublik?

Wenn man die Extremfälle Deutschland und England nimmt, dann kann man das gut in Zusammenhang stellen zu der Geschichte der letzten 45 Jahre. In England besteht offenbar eine Kontinuität mit dem positiv erfahrenen Krieg gegen die Nazis. Und das war ja auch in der Hauptsache ein gerechter Krieg. Aber es gibt dann offenbar eine einheitliche Linie von dort über den zweifellos sehr problematischen Falklandkrieg bis zu dem für mich ungerechten Krieg gegen den Irak. Der englische Nationalismus bzw. Patriotismus hat sich ungebrochen halten können, während der deutsche Nationalismus bis zur Wiedervereinigung glücklicherweise erstaunlich niedergehalten werden konnte — und bisher hat sich daran ja nichts Wesentliches geändert. Es ist erstaunlich, daß es in England nur einige Hinterbänkler der Labour-Party gibt, die nicht zustimmen, während bei uns zumindest eine der großen Parteien dem Golfkrieg nicht zustimmt. In der Bevölkerung müssen die Differenzen noch sehr viel größer sein. Die Unbekümmertheit, mit der die Engländer in so einen ihnen gerecht scheinenden Krieg ziehen, steht ganz sicher in einem eindeutigen Kontrast zu der sehr viel distanzierteren Haltung, die die Deutschen aufgrund ihrer Erfahrungen haben. Es ist ermutigend, daß es die jüngste Generation ist, die hier auf die Straße geht. Die Rolle der Bundesregierung ist eine eigentümlich ambivalente zwischen der deutschen Öffentlichkeit und dem amerikanischen Drängen, dem sie sich gleichwohl unterwirft.

Dieser Golfkrieg wirft doch über ihn hinausweisende Fragen auch moralischer Art auf. Es kann doch Situationen geben, in denen die Völkergemeinschaft mit Gewalt bestimmte Werte, etwa das Völkerrecht, durchsetzen muß.

Natürlich gibt es Situationen, in denen moralische Werte mit Gewalt durchgesetzt werden müssen. Zum Beispiel — und das ist ja das vorgegebene Ziel hier — um ein Land daran zu hindern, ein anderes zu überfallen. Obwohl es dabei immerhin ein Problem darstellt, inwieweit Dritte, die nicht unmittelbar tangiert sind, da noch eingreifen dürfen. Es kommt mir auf das empirische Faktum an, daß Kriege nur mit angeblichen moralischen Gründen geführt werden können, weil Sie keine Nation ohne den Glauben in den Krieg führen können, in irgendeiner Weise für das Gute zu kämpfen. Das haben in gewisser Weise auch die Nazis getan, da stand das allerdings sehr am Rande. Aber bei den Amerikanern ist es allemal so. Es muß ein Krieg für das Gute sein, und dann brauchen wir das Gute nur auf eine bestimmte Weise zu definieren. Man kann ökonomische Interessen nur mit vorgegebenen moralischen Gründen kriegerisch austragen. Die Gegenüberstellung ist hier mehr eine von Ökonomie und Moral, nicht von Gewalt und Moral. Denn Gewalt kann gegebenenfalls moralisch begründet sein. Das ist ja die Unterscheidung, die zwischen gerechten und ungerechten Kriegen gemacht wird. Die extreme Haltung des Pazifismus, die sagt, Gewalt unter keinen Umständen, ist eine Sache für sich.

Die Völkergemeinschaft kann sich doch auch den Berichten von amnesty international nicht verschließen, die die eklatanten Menschenrechtsverletzungen vom Irak in Kuwait beweisen. Sie halten es für fragwürdig, daß Dritte sich in diesen Konflikt eingeschaltet haben. Aber es ist doch auch klar, daß sich Saudi-Arabien nicht allein gegen den Irak hätte verteidigen können.

Ich kann Ihnen nicht zustimmen, wenn Sie sagen, man kann sich dem amnesty-Bericht über Kuwait nicht verschließen. Warum hat man sich den Berichten über die Gasangriffe der Irakis auf die Kurden verschlossen? Wieso zieht man auf einmal moralische Fragen aus der Schublade, wenn sie den eigenen ökonomischen Interessen entsprechen und sonst nicht? Das muß man grundsätzlich verurteilen.

Einverstanden.

Deswegen lehne ich die Argumentation ab, es seien gleichwohl moralische Beweggründe im Spiel. Natürlich sind sie es, am Rande. Aber: Warum nur hier gegenüber dem Irak; warum erst jetzt?

Es bleibt das Problem der neuen Epoche, die begonnen hat, weswegen die Argumentationen, die sich auf Vergangenes beziehen, nur begrenzt zu akzeptieren sind. Unser Interesse müßte es doch sein, dafür zu sorgen, daß vermittelt über die UNO und nicht mehr über die Ost- West-Struktur mit militärischen Mitteln betriebener Expansionismus einzelner Staaten verhindert wird. Zugestandenermaßen sieht es so aus, als blieben derzeit die Amerikaner als die Nummer Eins übrig. Doch ist das nur so lange der Fall, solange keine neuen Strukturen existieren, Institutionen, die Völkerrecht und bestimmte universelle Werte durchsetzen.

Ich habe damals in meinem Buch zur Atomkriegsgefahr in einem Aufsatz, der freilich nur in der zweiten Auflage erschienen ist, das Problem einer Weltregierung erörtert, die Frage, ob sie besser wäre als die Staatenvielfalt. Ich habe damals an der möglichen Realisierung einer Weltregierung gezweifelt, weil die Bipolarität der politischen Realität nicht so leicht überwindbar schien. Jetzt nähern wir uns einer solchen Situation, in der wir trotz der Staatenvielfalt in gewisser Weise eine einheitliche Weltregierung haben könnten. Das wäre die UNO. Da stellt sich dann nur die Frage, wie sind die Machtverhältnisse in dieser Weltregierung verteilt? Und das scheint mir die jetzt aufkommende Gefahr zu sein: Wir haben gar nicht eigentlich eine Weltregierung, sondern die Vormachtstellung eines Staates — der USA. Die Gerechtigkeitsfragen, die Sie ansprechen, wären nur zu lösen, wenn wirklich die UNO regieren könnte — obwohl man sich auch fragen kann, ob ein so zusammengesetztes Gremium vernünftig ist, in dem jeder Staat genau eine Stimme hat. Wir hatten das, was die Philosophen früher einen Naturzustand zwischen den Staaten nannten. Heute haben wir teils einen Naturzustand, teils eine einheitliche Weltregierung, die aber nur formal regiert. Und dahinter stehend haben wir einen Staat, der seine Macht rücksichtslos durchzusetzen versucht. Da scheint mir das Zentrum der Ungerechtigkeitsproblematik von heute zu liegen. Das drückt sich im Moment in diesem Krieg aus und könnte sich auch in weiteren ähnlichen Kriegen ausdrücken. Ich hoffe, daß es jetzt zu einer sehr starken Verbreiterung des Antiamerikanismus kommen wird und die Amerikaner an Macht verlieren werden.

In der Diskussion dieser Tage kann man zu dem Eindruck gelangen, im Golfkrieg stünde die Aufklärung gegen den fundamentalistischen Islam. Im 'Spiegel‘ endet ein Essay mit der Aussage, wir, der Westen, seien „verdammt zur Dominanz“. Was halten Sie von solchen Einschätzungen?

Ich lehne sie absolut ab. Wir haben es im Moment nicht mit einem Aufeinanderprallen von Werten zu tun. Der Islam und das Christentum sind nicht so eklatant gegensätzlich. Sie haben auch schon früher zusammen leben können. Vor allem haben Islam und Judentum gut zusammen leben können. Es gibt natürlich große Gegensätze in der Lebensgestaltung, im einzelnen. Es ist keine Kollision der Werte, sondern der Interessen. Moralisch gesehen ist es kein bestimmter moralischer islamischer Wert, der dem Westen entgegengehalten wird, denn auf der Seite der Iraker steht dieser Überfall, der von den Mohammedanern genauso verurteilt wird wie von uns. Welche Werte werden denn von Saddam hochgehalten? Es wird von den Mohammedanern selbst als sehr zweideutig angesehen, daß er sich als der Retter des Islams aufspielt und andererseits Großmachtpolitik betreibt und dabei Werte verletzt, die auch in den Augen der Mohammedaner gelten. Die Mohammedaner wollen doch nur ein gewisses Maß an Selbstbestimmung. Im Zentrum behandelt werden sollte eher die Situation im Iran, wo meiner Meinung nach furchtbare Dinge im Namen des Islams geschehen. Es ist kein Aufeinanderprallen des Westens mit dem Islam, sondern eines von fundamentalistischen mohammedanischen Wertvorstellungen mit der modernen Welt der Aufklärung, die natürlich im Bereich des Islams genauso da ist wie bei uns. Die Aufklärung wird sich hoffentlich über die ganze Welt ausbreiten, und in diesem Gegensatz stehen wir überall. Es müssen sich Formen des Miteinanderlebens zwischen den traditionellen Werten und den Werten der Aufklärung ergeben. Ich halte das nicht für ausgeschlossen. Der Islam ist da sicher im Rückstand. Bei uns gibt es ein Zusammenleben des Christentums — das genauso traditionalistisch ist wie der Islam — mit der Aufklärung. Das ist irgendwie gelungen. Der Islam muß dafür noch kämpfen. Aber das ist seine Sache, dafür können wir keine Kriege führen. Wir haben ja auch keine Kriege mit dem Iran geführt, wo dieses Problem am akutesten ist.

Saddam versucht jetzt, den Golfkrieg zum heiligen Krieg gegen die Ungläubigen zu machen, und damit hat er auch sehr viel Erfolg bei den Fundamentalisten.

Aber das ist nicht der Ausgangspunkt dieses Krieges. Das war weder der Ausgangspunkt für den Überfall auf Kuwait, noch ist es im Moment die Sache der USA. Das ist eine sekundäre Entwicklung, die der Irak zu forcieren versucht, indem er Israel angreift. Es ist zum Glück noch nicht so weit gekommen, daß er Israel in den Krieg hineingezogen hat.