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Hör-Funken

■ Simulation

Hör-Funken

Simulation. Das Jahr 2.006: Ramstein in der Pfalz, ehemals größtes US-Militärghetto in Europa, ist eine Geisterlandschaft; in Den Haag werden auf einer Auktion zu astronomischen Summen die letzten Bordeaux-Weine versteigert - leider hatte im Jahr 1996 der Super-Gau eines Reaktors das Weinbaugebiet verseucht. In Bonn, das auch durch keine Zukunft zu erlösen ist, schwadroniert immer noch ein amerikanischer Botschafter über die Freundschaft zwischen Europa und den USA. Die Zukunft des Jahres 2.000 ähnelt also irritierend der Gegenwart der achtziger Jahre: Geisterlandschaften bleiben Geisterlandschaften, Super-Gaus tun, wozu es sie nun einmal gibt, das Phrasenschwingen bleibt ohnehin ein Zeitvertreib für Jahrtausende, der als Politik vertrieben wird.

Hans Magnus Enzensbergers Simulation der europäischen Zukunft geht durch alle Stationen, von Bukarest bis Berlin und Finnland bis Prag. Bereist wird das Jahr 2.006 von einem amerikanischen Reporter, dem letzten seines Fachs, denn Timothy Taylor ist Rundfunk-Korrespondent des New Yorker Senders WNCO, und der ist der letzte Wort-Sender der USA, während die übrigen bringen, was auch heute schon der Großteil austeilt: Musikkonserven. Die Gegenwart drückt als Schraubzwinge auf die Science Fiction und gibt ihr keinen Millimeter Fiction-Freiheit. Timothy Taylor präsentiert sein Zukunftsbild Europas („Die Kleinstaaterei ist die wahre Heimat aller Deutschen - übrigens gilt das nicht nur für Deutschland.

Im Grund handelt es sich um ein europäisches Phänomen“), wie es sich für einen anständigen Wort-Sender gehört, in einer Mischung aus Reportage, Werbespots, Nachrichten und Moderation. In Prag hatte ihm ein Taxifahrer Ingeborg Bachmanns Gedicht 'Böhmen am Meer‘ gegeben, dessen Titel zu dem von Enzensbergers Sendung wurde; und ob ihm nun dieses Gedicht den Rest gab oder er schon vorher vom Kleinstaatenverein Europa genug hatte: Er ist froh, auf seinen eigenen Kontinent zurückfliegen zu können, wo die Kleinstaaterei wenigstens größere Dimensionen besitzt. „Böhmen am Meer“, Sonnabend, 2100-2230, NDR 3

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