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Archiv-Artikel

Höher, schneller, weiter, älter

HIPPEN empfiehlt Der Dokumentarfilm „Herbstgold“ von Jan Tenhaven erzählt von 80- bis 100-jährigen Sportlern, die bei einer Leichtathletik-Weltmeisterschaft antreten

Jan Tenhaven las in der Rubrik Vermischtes über dieses vermeintliche Kuriosum, und witterte eine gute – und eben noch nicht erzählte – Geschichte

VON WILFRIED HIPPEN

Er war der Einzige, der in seinem Wettbewerb antrat! Der Diskuswerfer Alfred Proksch aus Wien hatte keine Konkurrenten, als er bei der Leichtathletik-WM im finnischen Lahti seine Würfe ausführte. Streng logisch betrachtet, kann man da kaum noch von einem Wettkampf sprechen – und dazu kommt auch noch, dass die Sparte extra für ihn eingerichtet wurde. Dennoch wurde er bejubelt wie kaum ein anderer Athlet, denn er kämpfte in der Disziplin „Diskuswerfer im Alter von 100 Jahren und mehr“. Sein Gegner war das Alter, und um ihn zu besiegen, ließ Proksch sich ein paar Monate vor dem Kampf nach einem üblen Sturz zuhause noch ein künstliches Kniegelenk einsetzten.

Aktive Hochleistungssportler werden meist nicht alt. Beim Kunstturnen sind die 20-jährigen schon Senioren, und bei der Fußballweltmeisterschaft wird gerade von überalterten Mannschaften geschrieben, wenn deren Durchschnittsalter knapp über 30 Jahre liegt. Wenn es um Höchstleistungen und (bei den populären Sportarten nicht zu unterschätzten) die Attraktivität der Performer geht, ist dies eine logische Konsequenz. Aber ist Sport nicht auch noch etwas anderes? Geht es nicht auch für den einzelnen Menschen darum, am eigenen Körper zu arbeiten, seine Grenzen zu erfahren und durch Training zu überwinden? Den eigenen Ehrgeiz und Spieltrieb zu befriedigen und die Gemeinschaft mit Sportskollegen zu genießen – selbst wenn sie die schärfsten Konkurrenten sind? All das hört ja mit dem Älterwerden nicht auf, und so gibt es viele Menschen, die bis ins hohe Alter hinein Sport treiben. So findet alle zwei Jahre eine von den World Masters Athletics veranstaltete Weltmeisterschaft der Senioren statt, bei der bis zu 7.000 Teilnehmer antreten – und dies von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt.

Jan Tenhaven las in der Rubrik Vermischtes in einer Zeitung eine kleine Meldung über dieses vermeintliche Kuriosum, und als Dokumentarfilmer witterte er eine gute – und eben noch nicht erzählte – Geschichte. Nach vielen Recherchen fand er fünf Sportler zwischen 82 und 100 Jahren, und diese begleitete er mit der Kamera bei ihren Vorbereitungen auf die Leichtathletik-WM. Bei dieser Art von Dokumentarfilm ist es wichtig, dass die Protagonisten Vertrauen zu den Filmemachern fassen, denn alles hängt davon ab, wie nah sie die Kamera an sich heranlassen. Dieses Talent hat Tenhaven – und er ist so klug, mit einem guten Rhythmusgefühl jene Szenen, in denen die Sportler von ihrem Leben erzählen, mit Situationen vom Training und später dann vom Wettkampf zu mischen.

So lernen wir den 82-jährigen Hochspringer Jiri aus Tschechien kennen, dessen größte sportliche Leistungen vielleicht doch die hochkomischen Streitgespräche mit der Ehefrau auf der heimischen Couch sind. Die italienische Diskuswerferin Gabre Gabric verrät niemandem ihr alter, weil sie nicht wie eine „alte Frau“ behandelt werden will, aber dass sie schon 1936 bei der Olympiade in Berlin antrat, ist dann doch ein verräterisches Indiz. Die Duisburgerin Ilse Pleuger will unbedingt den Weltrekord im Kugelstoßen der über 85-jährigen verbessern, und beim letzten Wurf geht es dann tatsächlich um einen Zentimeter.

Bei den Bildern von ihren entscheidenden Wettkämpfen gönnt Tenhaven den fünf Sportlern dann zum Schluss noch die im Stil eines konventionellen Sportfilms geschnittenen extremen Zeitlupenaufnahmen von ihren sich in äußerster Anstrengung verformenden Körpern, dem scheinbar ewig fliegendem Diskus, der sich zum Zielband streckenden Brust des Läufers usw. Der ironische Stilbruch macht noch deutlicher, dass dies ein ganz anderer Sportfilm ist.