Höhepunkt des Uni- und Schulstreiks: Die zehn deutschen Bildungskrisen
Beim Bildungsstreik wollen am Mittwoch Schüler und Studierende groß demonstrieren – bis zu 150.000 sollen es werden. Wo sie richtig liegen und was sie total übersehen.
1. Das deutsche Bildungssystem ist selektiv und ungerecht.
Edelgard Bulmahn, die allzu rührige Bildungsministerin der Ära Rot-Grün, sagte einst: Wir wollen mit unserem Bildungssystem in zehn Jahren wieder unter den Top Ten sein. Davon ist Deutschland trotz Fortschritten meilenweit entfernt. Das deutsche Bildungssystem zeichnet sich durch zweierlei aus - Mangel und Ungerechtigkeit. Es mangelt an Plätzen für Lernwillige von der Kinderkrippe bis hinauf zu den Hochschulen.
Der Schüler- und Studentenprotest steuert am heutigen Mittwoch auf seinen vorläufigen Höhepunkt zu. In mehr als 70 Städten sind bundesweit Demonstrationen geplant. Aufgerufen dazu hat das Aktionsbündnis "Bildungsstreik 2009".
Die Gewerkschaften verdi und GEW unterstützen die Aktionen zum Teil. Schüler wie Studenten fordern dabei mehr Geld für die Bildung.
Am Dienstag war es zu weiteren symbolischen Besetzungen von Hochschulgebäuden gekommen – unter anderem in Berlin, Göttingen, Halle, Hannover, Heidelberg, Jena und Köln.
Zudem produzieren die Schulen viel zu viele Verlierer - und zwar gezielt bei Migranten, Behinderten und sozial Benachteiligten. Jeder fünfte junge Deutsche geht von der Schule ab, ohne richtig lesen zu können. Das ist für eine Industrienation, die angeblich nur einen Rohstoff hat - das Wissen seiner Kinder - , eine schwere Hypothek. Der Grund? Das Bildungssystem stammt in seinen Grundstrukturen aus dem 19. Jahrhundert. Es setzt auf Auslese statt auf Entwicklung aller Talente.
Haben die Bildungsstreiker das Thema auf dem Schirm?
Das Lamento über die Ungerechtigkeit des Bildungssystems ist groß. Aber der Streik ist nach wie vor hochschulzentriert - und an den Unis geht so einiges schief, Benachteiligte finden sich dort jedoch so gut wie keine. Note: 2-
2. Das Land der Reformpädagogen ist didaktisch ein Entwicklungsland.
Die Deutschen haben ein mehr oder weniger vormodernes Lernbild im Kopf. Bei ihnen läuft immer noch die "Feuerzangenbowle". Der Streifen von 1944 ist noch heute Kult - obwohl dort Frontalunterricht gezeigt wird. Die Botschaft lautet: Frontbeladung und Belehrung funktionieren, wenn der Lehrer nur witzig genug ist. Belehrung ist aber das Letzte, was im 21. Jahrhundert gebraucht wird.
In allen Industrien wie auch für die Staatsbürger steht eine Qualifikation im Vordergrund: Problemlösungskompetenz. Kinder müssen schon früh lernen, ihre kreativen Potenziale zu entfalten, im Teamwork mit anderen arbeiten zu können, auch mit anderen Kulturen. Kindergarten und Schule haben die vornehmste Aufgabe, die Kinder daran nicht zu hindern. Da liegt der Hase im Pfeffer: Trotz aller Vereinfachungen verlangt die gegliederte Schule nach wie vor, Kinder zu sortieren. Sie zwingt Lehrer besonders in der vierten Klasse und im Gymnasium, nach den Schwächen der Kinder zu fahnden und nicht ihre Stärken zu entfalten.
Auf dem Schirm der Streiker?
Von modernen Lernformen wird nicht gesprochen. Wenn man großzügig ist, könnte man die Forderung nach demokratischer Beteiligung als Wunsch zu Lernformen der Selbständigkeit interpretieren. Note: 4-
3. Die frühkindliche Bildung als Reform-Placebo.
Am liebsten fantasieren Bildungspolitiker heutzutage das Haus der Kleinen Forscher herbei. Die Kita als Synapsen-Zucht-Einrichtung, geleitet von entwicklungspsychologisch geschulten Kinderprofessorinnen. Der Alltag 2009 sieht ganz anders aus. Die Kita ist rund 150 Jahre zurück. Was Friedrich Wilhelm Fröbel in den 1840er-Jahren propagierte - exzellent ausgebildete Pädagoginnen, Gaben für das spielerische Lernen, beobachtende Betreuer - gibt es noch heute nur in Ansätzen. Am bittersten: der Mangel an Krippen- und Kita-Ganztagsplätzen, die grottenschlechte Bezahlung und vor allem die beharrliche Weigerung der Ministerpräsidenten, ErzieherInnen endlich ein Hochschulstudium zu geben. Mit Recht streiken grad die Erzieherinnen - außer besseren Pausenzeiten wird nicht viel herausspringen.
Auf dem Schirm der Streiker?
Nein, geht auch gar nicht. Während mancherorts, ohne mit der Wimper zu zucken, 400 Euro Kitagebühren pro Monat bezahlt werden, verlangen die Streiker die Abschaffung aller Studiengebühren. Note: 5
4. Der Lehrer als Pauker.
Die OECD kam gestern mit ihrer neuesten Lehrerstudie heraus. Sie entdeckte, dass Lehrer Anreize für guten Unterricht vermissen und Schüler häufig zu frech und ordinär finden. Was deutsche Lehrer denken, weiß niemand - denn Deutschland hat an der Studie erst gar nicht teilgenommen. Das Problem der Pauker ist, dass ihr Ruf hoffnungslos auf den Hund gekommen ist. Ihr Unterricht läuft, wie Videostudien zeigen, immer noch frontal ab. Besserung ist kaum in Sicht, da es mit dem Umbau der Lehrerbildung nicht vorangeht.
Auf dem Schirm der Streiker?
Es werden mehr Lehrer gefordert. Das ist nicht falsch, aber auch nicht besonders intelligent. Note: 2+
5. Der Sonderschulskandal
Mehr als 400.000 behinderte und lernbehinderte Schüler werden in Deutschland auf Sonderschulen geschickt, das ist jeder 20. Schüler. Zum Vergleich: In Norwegen ist es nur jeder 200. In der Bildungsforschung ist unbestritten, dass die Sonderschulen die Kinder und Jugendliche in eine Sackgasse führen. Fast 80 Prozent verlassen sie ohne Abschluss - und ohne Chance auf eine Ausbildung. Die Sonderschulen könnten bis 2020 aufgelöst werden, wie ein Gutachten des Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie zeigt - wenn die Politik das denn wollen würde.
Auf dem Schirm der Streiker?
Nicht wirklich. Sie fordern zwar ein Ende des dreigliedrigen Schulsystems. "Sonderschulen schließen" hat man sie noch nicht skandieren hören. Note: 3-
6. Die Studienfinanzierung ist undurchsichtig und ungerecht.
"Weg mit den Studiengebühren": eine populäre Forderung, für die es gute Argumente gibt. Aber Tatsache ist auch: In 10 von 16 Bundesländern ist das Studium gebührenfrei. Ein größeres Problem ist, wie intransparent die Studienfinanzierung insgesamt abläuft. Die Studenten bekommen ihr Geld über den Umweg der Eltern: durch das Kindergeld und Steuerfreibeträge. Ein international einzigartiges Modell - einzigartig undurchsichtig und ungerecht.
Denn davon profitieren Studenten aus wohlhabenden Familien sogar mehr als Kinder aus einkommensschwachen, wie eine Studie des Hochschul-Informationssystems (HIS) gezeigt hat. Was Deutschland bräuchte, ist ein einkommensunabhängiger Sockelbetrag für alle Studenten. Die skandinavischen Länder kennen das seit Jahren. Obendrauf könnte dann bei Bedarf das Bafög-Darlehen kommen. Und Stipendien. Auch die gibt es in hier viel zu selten. Nur 2 Prozent der Studenten bekommen eins.
Auf dem Schirm der Streiker?
Nur bedingt. Sie sind gegen Unigebühren und fordern abstrakt die "finanzielle Unabhängigkeit der Studierenden". Note: 2
7. Das Übergangssystem als Falle.
Ein Monsterwort. Ein bürokratisches Ungetüm, von dem die meisten noch nicht einmal wissen dürften, was sich dahinter verbirgt. Dabei stecken etwa eine halbe Million Jugendliche im Übergangssystem zwischen Schule und Ausbildung, wie in einer am Montag veröffentlichten Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung wieder beklagt wurde. In einer Warteschleife aus berufsvorbereitenden Jahren, Einstiegsqualifizierungen und Endlosmaßnahmen. Für die Politik ist das praktisch: Wer zwischengeparkt ist, taucht nicht in den Statistiken zur Lücke auf dem Ausbildungsmarkt auf.
Auf dem Schirm der Streiker?
Überhaupt nicht. Mit dem komplizierten Übergangssystem beschäftigen sie sich nicht. Note: 5
8. Schlechte Lehre an den Unis.
1,9 Milliarden Euro haben Bund und Länder für die "Exzellenzinitiative" lockergemacht. So heißt die Förderung der Forschung an ausgewählten Elite-Unis. Die "Exzellenzinitiative für die Lehre" erhält vom Staat gerade einmal 5 Millionen Euro. Das ist noch nicht einmal ein halbes Prozent der Summe für die Eliteforschung. Erst Anfang Juni haben Bund und Länder beschlossen, weitere 2,7 Milliarden Euro bis 2017 in die Elite-Forschung zu stecken.
Auf dem Schirm der Streiker?
Ja. Sie verlangen 8.000 Professuren mehr in den nächsten drei Jahren, dazu zusätzliche 4.000 Mittelbaustellen und 10.000 TutorInnen. Note: 1-
9. Die Bologna-Reform ist völlig misslungen.
Kaum ein Land hat die sogenannte Bologna-Reform so starr umgesetzt wie Deutschland. Die neuen Bachelor-Studiengänge wurden oft einfach vollgestopft mit den Inhalten der alten Magister- oder Diplomstudiengänge. Credit Points einführen, Anwesenheitspflicht verschärfen, neues Schildchen drauf. Fertig. Freiheit und Flexibilität? Nicht so wichtig. Die Probleme sind inzwischen auch den Bildungspolitikern klar. Die Abbrecherquoten sind hoch, für Auslandsaufenthalte und Nebenjobs bleiben wenig Zeit. Langsam kommt das auch bei den Unis an. So fangen die Ersten damit an, den Bachelor zu entschlacken und den Studenten statt sechs acht Semestern Zeit zu lassen.
Auf dem Schirm der Streiker?
Im Prinzip ja. Sie fordern eine "Abschaffung von Bachelor/Master in der derzeitigen Form". Viele Protestler wollen aber am liebsten ganz zurück zum alten Magister und Diplom. Realistisch ist das nicht. Note: 2
10. Insgesamt wird an der Bildung zu viel gespart.
Deutschland gibt im internationalen Vergleich zu wenig Geld für die Bildung aus. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt sind es rund 15 Prozent weniger als im Schnitt der anderen Industrienationen in der OECD. Einige Milliarden sind nun über das Konjunkturpaket in Schulen und Hochschulen geflossen - das Geld wurde vor allem für die Gebäudesanierung verwendet, so will es der Föderalismus. Bessere Bildung bekommt man allein durch Beton aber nicht. Experten sind sich einig, dass in den nächsten Jahren eines passieren muss: Mindestens das Geld, das durch sinkende Schülerzahlen übrig bleibt, muss in den Schulen bleiben. Bis 2015 sind das etwa 25 Milliarden Euro.
Auf dem Schirm der Streiker?
Im Prinzip ja. Sie fordern mehr Geld für Schulen und Universitäten, gerade in der Krise - und glauben, dass sie ihre Forderung mit etwas kindischen Aktionen wie dem symbolischen Überfall auf Banken rüberbringen können. Note: 2-3
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin