■ Höge in Hamburg: Die Prosa des Handels
Auf dem Weg von Bremen nach Hamburg komme ich am Einkaufscenter „Jawoll-Markt“ vorbei. Auf der Alster kreuzen Segelschiffe. Während in der Berliner Industrie- und Handelskammer Rumpeldipumpel-Polier-Physiognomien dominieren, sehen sie hier wie smarte Architekten aus. Solch einen aus dem „Shipbusiness“ – er versenkt gerade große Teile der Rostocker und Bremer Flotte, um „Schlimmeres zu verhüten“ – frage ich im Handelskammer-Foyer: Ist jedes Verhandeln ein Handel? (Und denke dabei an die Millionen, die die Geiselbefreiung in Mogadischu kostete).
Mein Gesprächspartner war jedoch anscheinend gerade in der Oper, er erzählt: Der Polizeichef Scarpia verspricht Tosca, ihren Caravadossi freizulassen, wenn sie mit ihm schläft, er denkt jedoch gar nicht daran, den Rivalen am Leben zu lassen. Tosca wiederum verspricht, sich Scarpia hinzugeben, um ihren Geliebten zu retten, sie will jedoch dessen Freilassung ohne diesen Liebesdienst erreichen.
Für den Ökonomen in der Oper ist deswegen klar: „Weder für Scarpia noch für Tosca gibt es ein Argument, daß es besser wäre, den Markt zu respektieren – also ein ehrliches Spiel zu spielen – als den anderen zu verraten.“ Und nun zur Preisbildung: Ausgehend von einem Gewinn von plus 5, kostet es Tosca minus 5, mit Scarpia zu schlafen, es bringt ihr aber plus 10, Caravadossi das Leben zu retten. Eine Täuschung Scarpias bei gleichbleibenden Preisen brächte ihr jedoch plus 10 ein (plus 10 für Caravadossi und plus 5 dafür, „der Umarmung Scarpias entkommen zu sein“). Der Ökonom schreibt ihr plus 10 an, weil es zwar wirklich unangenehm ist, Scarpia nachzugeben, aber nichts zu tun „ganz einfach gleich 0 ist“ – daher 0 plus 10 und nicht plus 5 plus 10. „Ist diese Wertsetzung gerecht?“ – Eine unbeantwortbare Frage, man kann aber sagen, „daß der Gewinn einer Entscheidung, der mit plus 10 beziffert ist, für Tosca zwar hoch genug ist, um sie zu interessieren, aber noch so niedrig, daß sie zögert: Plus 15 würde zu einer unmittelbaren Entscheidung führen! Auf der anderen Seite ist es die gleiche Gewinnminderung, die Scarpia dazu bringt, Caravadossi zu erschießen, wenn er von Tosca bekommt, was er begehrt. Das Ende der Geschichte sprengt jedoch – überraschend – den ganzen Handelsrahmen: Tosca tötet Scarpia!
Noch etwas benommen von der Kühle des Ortes trete ich in die helle Nachmittagssonne. Eine Gruppe japanischer Touristen, alle mit verknautschten Safarihüten auf dem Kopf, hat vor der herrlichen hanseatischen Kulisse Aufstellung genommen, um fotografiert zu werden. Erst im „Planten und Blomen“, wo abgesicherte Rentner steif zum Tanz auffordern und Seerosen sich leise im Takt der Schlagermusik bewegen, komme ich dazu, eine Bratwurst mit Pommes zu bestellen, das heißt, das Leben zu genießen. Später – auf dem direkten Weg nach Osten – überholt mich ein Cabrio-Schlitten nach dem anderen. An den Ampeln taxieren die Insassen lässig meinen Leih-Jetta und mich. Sie sehen aus, als würden sie Zeitungen wie Autowelt, Schöner Wohnen, Ambiente und Skipper entscheidend mitgestalten. „Die einzig verständliche Sprache, die wir zueinander reden“, meinte Marx, „sind unsere Gegenstände in Beziehung aufeinander.“
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