piwik no script img

Archiv-Artikel

Hoch über den Bergspitzen schweben

WINDENERGIE Europas höchstgelegene Windturbine steht in den Schweizer Alpen auf einer Höhe von mehr als 2.300 Metern

„Irgendwann kriegen wir auch eine Million Kilowattstunden in einem Jahr zusammen“

VON DIERK JENSEN

Die letzten Meter sind beschwerlich. Seitlich fegt der Wind über den Altschnee, der meterhoch auf dem Gebirgsfelsen namens Gütsch liegt. Plötzlich verdunkelt sich der Himmel, der Skilift verschwindet im einsetzenden Schneetreiben, aufkommende Böen wirbeln Schneeflocken hoch.

Ohne Sonnenstrahlen wird es im Nu grimmig kalt, unwirtlich. Doch Markus Russi stapft unbeirrt weiter durch den weichen Schnee und erreicht als Erster Europas höchstgelegene Turbine, eine Enercon E-40. Die Windenergieanlage mit einer Leistung von 600 Kilowatt steht exakt 2.332 Meter über den Meeresspiegel in der schweizerischen Kommune Andermatt, einem beschaulichen Skiort mit 1.300 Seelen. Mitten in der Schweiz, mitten in den Hochalpen.

Eine halbe Stunde später. Ein kurzer Hieb mit dem Rücken und Russi hat die Dachluke der eiförmigen Gondel geöffnet. Grelles Licht fällt hinein. Während des Aufstiegs hat sich das Wetter gedreht, zeigt sich jetzt wieder von der Sonnenseite. Weißblauer Himmel. Der Blick auf die Bergwelt ist einfach überwältigend: Wer von hier aus auf das Alpenmassiv schaut, hat das Gefühl, als ob er in den Wolken schwebe. Wenngleich er schon öfter ganz oben war, ist der Balkonblick auch für Markus Russi sichtlich faszinierend. Sein Wetter gegerbtes Gesicht strahlt, wirft zufriedene Falten. Ohne ihn gäbe es die Windmühle an diesem exponierten Platz wohl kaum. Denn Elektroingenieur hat als Betriebsleiter des örtlichen Elektrizitätswerkes Ursern (EWU) die Windenergie in die schweizerischen Zentralalpen geholt. Als 1998 das Schweizerische Bundesamt für Energie beim traditionsreichen EWU, das vor über 100 Jahren von Bürgern der drei Gemeinden Andermatt, Hospental und Realp gegründet wurde, nach geeigneten Standorten für Windenergieanlagen fragte, da war Russi sofort Feuer und Flamme. „Ich war von der Windenergie überzeugt, ich habe als leidenschaftlicher Windsurfer schon früh die Kraft des Windes entdeckt.“ Er sah im Bau und Betrieb einer Windenergieanlage für das EWU ganz einfach die strategische Chance, alle Stromkunden im Bereich des eigenen Stromnetzes mit 100 Prozent erneuerbaren Energien versorgen zu können.

Was Ende der Neunzigerjahre noch von einigen Bewohnern im Tal als kühn und ambitioniert interpretiert wurde, ist heute längst Realität. Schon im Jahr 2005 hat das EWU seine Stromabnehmer vollständig mit grünem Strom beliefern können. Denn neben der E-40 speisen drei eigene Wasserkraftwerke mit 3, 2 und 0,4 Megawatt (MW) Leistung ausreichend Strom ins eigene Netz ein. Während der Wind 5 Prozent der Strommenge ausmacht, kommen die restlichen 95 Prozent aus den in den Neunzigerjahren komplett erneuerten Wasserkraftwerken.

Wenngleich Eis, Schnee und Turbulenzen gerade im Winter die E-40 extrem beanspruchen, ist Russi voll des Lobes. „Unsere Maschine läuft. Seit der Inbetriebnahme im Herbst 2004 haben wir nur die obligatorischen Wartungen durchgeführt. Im Jahr 2005 kamen wir sogar auf eine Verfügbarkeit von 99,4 Prozent.“ Die Turbulenzen am Berg sind enorm, die Naturgewalten wüten mitunter gewaltig: Innerhalb von zehn Minuten kann der Wind von 4 Meter pro Sekunde auf 40 Meter pro Sekunde beschleunigen. Doch trotz der Belastungen und der wegen der extremen Höhe nur geringen Luftdichte, die die Energieausbeute um etwa 20 Prozent reduziert, gibt sich Russi optimistisch: „Irgendwann kriegen wir auch eine Million Kilowattstunden in einem Jahr zusammen.“

Derzeit richtet sich die Einspeisevergütung nach den aktuellen Preisen an der konventionellen Strombörse, wobei der Windstrom als Ökostrom mit einem Aufschlag an die Stadtwerke Zürich weiterverkauft wird. „Mit den Erlösen läuft die Windenergieanlage rentabel“, so Russi.

Zwar ist das Beispiel Andermatt erfolgreich, doch steckt die Windenergie in der Schweiz mit bisher gerade mal knapp zwölf Megawatt installierter Leistung ziemlich am Anfang. Dass weiß auch Russi, dessen Einstieg ins Windgeschäft alles andere als glücklich verlief. Bevor nämlich die Enercon-Turbine errichtet wurde, hatte sich das Elektrizitätswerk Ursern 2001 auf den ABB-Konzern eingelassen, der damals in die Windenergie einzusteigen beabsichtigte und eine getriebelose Lagerwey LW 40/52 lieferte. Eine denkbar schlechte Wahl, wie sich bald zeigen sollte. „Die Maschine war vollkommen unausgereift, lief nie auf Volllast, war ständig defekt“, erinnert sich Russi an eine nervenaufreibende Zeit, die ihn an der eigenen Entscheidung zweifeln ließ.

Aber das ist Schnee von gestern. Stattdessen kündigt sich viel Neuschnee an. Die E-40 wird schon bald nicht mehr allein stehen, bekommt Gesellschaft von drei weiteren Anlagen des Typs E-44. „Wir planen intensiv und wollen das Trio voraussichtlich 2012 in unmittelbarer Nähe zur bestehenden Anlage in Betrieb nehmen“, sagt Russi unaufgeregt wie bestimmt.

Der beabsichtigte Ausbau in alpiner Höhe hat direkt mit dem steigenden Bedarf im Netzbereich des lokalen Versorgers EWU zu tun. So beabsichtigt der ägyptische Milliardär Samih Sawiris im schmalen Tal nördlich des Sankt-Gotthard-Passes, der vor dem Tunnel über Jahrhunderte eine wichtige Handelsroute gen Süden war, im beschaulichen Andermatt ein touristisches Investment der Superlative. Er will dem Skiort im Kanton Uri mit fünf Hotels, schicken Chalets und einem 18-Loch-Golfplatz zu neuem Glanz verhelfen. Der war in der Tat etwas verblichen, seitdem sich das Schweizer Militär nach dem Zweiten Weltkrieg hier verschanzt hatte und mit seiner Präsenz viele Touristen fernhielt. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sah das Schweizer Militär keinen tieferen Sinn mehr, die dort gebauten Bunker weiter zu nutzen und zog ab. Die hinterlassenen Freiflächen will Sawiris nun für seine rund eine Milliarde teuren Projekte nutzen. Dafür braucht der Investor aus Ägypten ausreichend Strom im Tal. Russi schätzt, dass der Strombedarf dadurch um das Doppelte ansteigen wird. Er betrachtet das kontrovers diskutierte Projekt als eine echte Herausforderung für das EWU, der er mit einer cleveren Kombination von Wind- und Wasserenergie begegnen will. „Bei uns ergänzen sich beide Energien optimal. Im Sommer haben wir durch die Schneeschmelze hohe Wasserstände und wenig Wind. Dagegen haben wir im Winter viel Wind, aber wenig Wasser in den Flüssen“, erklärt er und verweist auf eine stabil hohe Grundlast, bei der teure Stromzukäufe an der Strombörse nur selten notwendig sind.

Russi selbst hält den Ausbau auf knapp 100 MW in den kommenden Jahren für realistisch und aus landschaftsästhetischen Gründen für unbedenklich. Die Anlage auf dem Gütsch ist auf jeden Fall um ein Vielfaches schöner als die Bunker, die das Militär in dieser Region hinterließ.