Historikertag in Berlin: "Wir sehen die Geschichte gelassen"
Am Dienstag beginnt der Historikertag in Berlin. Ein Interview mit dem Weltgeschichtsschreiber Osterhammel über die Provinzialität der Zunft und die Angst vor Chinas Aufstieg.
Herr Osterhammel, auf dem Berliner Historikertag in dieser Woche gibt es erstmals auch ein Panel zur Globalgeschichte. Wissen Ihre Kollegen überhaupt, was das ist?
Jürgen Osterhammel: Ganz so ist es nun auch wieder nicht. Bei der Lektüre des Tagungsprogramms war ich angenehm überrascht, wie viele Themen jenseits der deutschen Nationalgeschichte oder der europäischen Geschichte vertreten sind.
Für das Fach ist das aber nicht repräsentativ?
Zur Person: Jürgen Osterhammel, 58, veröffentlichte 2009 "Die Verwandlung der Welt", eine Globalgeschichte des 19. Jahrhunderts. Er lehrt an der Uni Konstanz und ist an vielen Forschungsverbünden beteiligt. Zuletzt erhielt er den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
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Zum Kongress: Der Deutsche Historikertag ist der größte geisteswissenschaftliche Kongress Europas. Er findet alle zwei Jahre an wechselnden Orten statt und ist öffentlich zugänglich. Bis Freitag werden an der Berliner Humboldt-Universität rund 3.000 Besucher zu 75 Veranstaltungen erwartet (www.historikertag.de).
Ich hoffe, dass der Historikertag dem Fach vorauseilt und Nachzugseffekte haben wird.
Ist die Disziplin in Deutschland provinzieller als andernorts?
Auch an den History Departments in den USA dominiert die eigene Nationalgeschichte. Trotzdem ist dort über ein Drittel der Stellen außeramerikanischer Geschichte gewidmet. Auch kleinere Staaten wie die Niederlande haben sich seit langem zur Welt geöffnet.
Fühlten sich deutsche Historiker auch wegen der NS-Vergangenheit verpflichtet, vor allem die Nationalgeschichte in den Blick zu nehmen?
Selbstverständlich - ohne dass der NS-Forschung heute die Themen ausgehen würden. Hinzu kommt: Deutschland hatte nie ein weltumspannendes Imperium, das ein globales Bewusstsein hätte nähren können. Eines, das die Kritik an den Untaten der Europäer in Übersee einschließt. Was wir heute brauchen, ist die Verankerung der außereuropäischen und globalen Geschichte in der Personalstruktur. An jedem noch so kleinen Institut muss es mindestens eine Professur geben, die über die europäische Geschichte hinausweist.
Zusätzliche Stellen wird es kaum geben. Welche Disziplinen wollen Sie opfern?
In den Institutionen sollte man weniger daran denken, tradierte Besitzstände der einzelnen Epochen zu wahren. Lösungen sind möglich, wenn man die Nachfrage der Studierenden berücksichtigt, die Interessen einer aufklärungsbedürftigen Öffentlichkeit und die internationale Ausstrahlung der eigenen Hochschule.
Geht das Interesse an Geschichte allgemein zurück?
Wir leisten uns ein gelassenes Verhältnis zur Geschichte. Seit dem Historikerstreit der Achtzigerjahre gibt es keine fundamentalen Deutungskämpfe. Das ist in vielen Ländern anders. Indien verfügt etwa über eine sehr respektable Geschichtswissenschaft. Doch gibt es in der Öffentlichkeit ein starkes Verlangen, sie im Sinne des Hindu-Nationalismus zu instrumentalisieren. Geschichtsforschung muss sich dort aggressiver Ideologisierung erwehren.
Brauchen wir die Geschichte heute weniger als noch vor zwanzig Jahren?
Im Kern bleibt es dabei: Die Geschichte stellt einen Erfahrungsschatz bereit. Es bedarf politischer Urteilskraft, um ihn auf die Probleme der Gegenwart zu beziehen.
Warum so defensiv? Auch aus den Erkenntnissen der Klimaforschung lässt sich nicht unmittelbar ableiten, wie viel Klimagase China emittieren darf und wie viel die USA.
Aber gerade das Klimathema zeigt, dass wir heute in ganz neue Zonen der Bedrohung geraten. Prozesse, die wir kaum oder gar nicht mehr korrigieren können, sind historisch ohne Parallelen.
Das heißt, die Geschichtswissenschaft kann dazu im Prinzip gar nichts sagen?
Doch. Politik ist heute einerseits extrem kurzschrittig. Andererseits macht sie sich die unglaublichsten Illusionen über langfristige Gestaltbarkeit. Die Geschichte mahnt zur Skepsis gegenüber jedem Lösungsangebot, das den Zeitfaktor für beherrschbar hält. Denken Sie nur an die Frage des Atommülls. Schon der Begriff der Endlagerung ist in historischer Perspektive abwegig. Die schriftlich dokumentierte Geschichte der Menschheit umfasst gerade mal fünftausend Jahre. Dann kommt ein Politiker und sagt: Ich garantiere euch, in hunderttausend Jahren wird dieser Schacht im selben Zustand sein wie heute. Das ist absurd.
Wie können sich Historiker auf solche Fragen neu einstellen?
Lange Zeit lehnte sich die Geschichte an die Soziologie an, dann kamen Anthropologie und Ethnologie. Heute müssen wir unsere Verbindungen zur Naturwissenschaft stärken, wie etwa mit dem neuen Zentrum für Umweltgeschichte in München.
Schwerpunkt des Historikertags ist das Thema Grenzen. Was macht das Thema für die Wissenschaft so attraktiv?
Der Moment des Widerstands. Die Globalisierungsforschung etwa befasst sich mit Strömen, Flüssen, sogenannten Flows. Sie werden oft erst sichtbar, wenn sie auf Widerstände treffen. Die Grenze ist eine Art Versuchsanordnung für die Geschichtswissenschaft.
Wir leben in einer Zeit der Globalisierung, gleichzeitig ist etwa die Außengrenze der EU unüberwindlicher denn je. Wie geht das zusammen?
Das ist historisch nicht so überraschend. Gerade klassische Einwanderungsgesellschaften wie die USA, Kanada und Australien betrieben seit etwa 1880 eine regelrechte Exklusionsgesetzgebung. Sie richtete sich in erster Linie gegen Asiaten, später auch gegen Südeuropäer - und sorgte dafür, dass die Grenzen für bestimmte Menschen nicht mehr überwindbar waren. Diese Personengruppen wurden aufgrund körperlicher und kultureller Merkmale ausgefiltert.
Erleben wir so etwas ähnliches mit der Sarrazin-Debatte?
Damals handelte es sich nicht bloß um feindselige atmosphärische Verdichtungen, sondern um staatliche Gesetze. Das ist ein Unterschied. Etwas anderes ist allerdings die Roma-Abschiebung in Frankreich. Dort geht der Staat tatsächlich per Dekret gegen eine bestimmte Bevölkerungsgruppe vor - die gesellschaftlich eine viel schwächere Position hat als die türkischen Einwanderer bei uns.
Muss der Wandel zu einer Migrationsgesellschaft auch für unser Geschichtsbild Konsequenzen haben?
Wir sollten uns von Vorstellungen verabschieden, die auf einem historischen Ausnahmefall beruhen. Migrationsgeschichtlich war Europa niemals so beruhigt wie in den zwei Jahrzehnten nach dem Ende der kriegsbedingten Vertreibungen. In diesem ganz kurzen Zeitfenster gab es in Mitteleuropa kaum demografische Bewegung. Das hat die Wahrnehmung einer ganzen Generation geprägt, auch bei den Historikern. Als sich das änderte, wurde es als Störung dieser Normalität empfunden.
Neben der Angst vor dem Islam gibt es die Sorge, ob Europa in der Welt von morgen noch eine Rolle spielen wird. Müssen wir uns vor China fürchten?
Im deutschen System erkennt man den Angstkoeffizienten immer daran, wie viele Stellen geschaffen werden. Nach dem 11. September 2001 sind hunderte von Stellen zur Islambeobachtung entstanden - in Stiftungen, an Universitäten, beim Geheimdienst. Diesen Effekt kann man in Bezug auf China nicht feststellen. China-Panik findet auf den Titelbildern der Magazine statt, sie hat das Alltagsbewusstsein nicht wirklich erfasst. Wir müssen China beobachten, statt in irrationale Ängste zu verfallen.
Die westlichen Werte sind durch die Expansion Chinas nicht in Gefahr?
Ich halte wenig von der Vorstellung, dass die Welt in Europa und Nichteuropa zerfällt - mit einem tiefen Graben dazwischen. Vieles, was wir für eine einsame Entwicklung des Westens halten, hat es in anderen Kulturen längst gegeben. Auch unabhängig von westlichen Einflüssen. Die rationale Geschäftsführung zum Beispiel, die man lange für typisch westlich hielt, gab es schon bei chinesischen Kaufleuten des 17. Jahrhunderts. Auch im Indien des 19. Jahrhunderts findet sich Bürgerlichkeit. Der Habitus des Kaufmanns unterschied sich zwischen Lübeck und Delhi nicht dramatisch.
Das ist aber etwas anderes als Demokratisierung.
Es ist unwahrscheinlich, dass es jemals eine Einförmigkeit der politischen Systeme weltweit geben wird. Rechtsstaatliche Verhältnisse dürften sich weiter ausbreiten, jedoch nicht immer gefolgt von parlamentarischer Demokratie westeuropäischen Typs.
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