Historiker Nolte über Schwarz-Grün: "Zusammen wachsen"
Das Schwarz-Grüne Projekt? Einen Test wär's wert - die Grünen müssten sich bloß endgültig von einer Weltsicht des Untergangs verabschieden, meint der Historiker Paul Nolte
taz: Herr Nolte, Sie gelten schon lange als Befürworter schwarz-grüner Bündnisse. Haben Sie am Hamburger Wahlabend gejubelt?
Paul Nolte: Gejubelt nicht, aber gefreut habe ich mich schon. Alle Parteien müssen aus ihren Lagern herauskommen und neue Optionen ausprobieren. Schwarz-Grün ist besonders interessant, weil sich in den letzten Jahren neue Schnittmengen herausgebildet haben. Soziale Schnittmengen des Bürgertums und seiner Kinder, die sich sowieso in Anzug und Jeans im Theater begegnen und jetzt auf neue Art ins Gespräch kommen.
Paul Nolte, 44, lehrt als Professor für Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde er 2004 durch die Aufsatzsammlung "Generation Reform" bekannt. Dort verwendete er den Begriff "Unterschichtenfernsehen", den Harald Schmidt wenig später in seiner Fernsehsendung aufgriff. Nolte ist Vertrauensdozent der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung, beriet aber auch schon die Grünen.
Also die "Koalition der Opernbesucher", wie eine taz-Kommentatorin schrieb?
Nicht nur. Es gibt auch ideelle Gemeinsamkeiten bürgerlich-grüner Politik. Die Grünen sind eine Partei von Individualisten und insofern nicht klassisch links, die CDU hat einen starken sozialen Impuls und ist von daher nicht klassisch rechts. Diesen Überschneidungen nachzuspüren könnte der ideelle Überbau der Hamburger Sondierungen sein: Wie lassen sich Individualismus und Gemeinsinn verbinden? Das ist für mich die zentrale Frage eines schwarz-grünen Projekts.
Woher kommt bei Bildungsbürgern die Begeisterung für Schwarz-Grün?
"Begeisterung" wäre zu hoch gegriffen. Ich würde das eher mit dem sozialliberalen Projekt der späten Sechzigerjahre vergleichen, das sehr stark von Intellektuellen getragen wurde und ebenfalls eine Minderheitsbewegung war. Als Koalitionsoption hätte dieses Modell in der Gesamtbevölkerung zunächst keine Mehrheit gehabt. Auch damals haben bestimmte Eliten gesagt: Da bildet sich etwas Neues heraus, das probieren wir jetzt aus.
Wie damals bei der FDP ermöglicht die große Koalition also heute den Koalitionswechsel der Grünen?
Damals war die FDP für eine Wahlperiode in der Opposition geparkt, um parteiintern mit ihrer Neuorientierung voranzukommen. So könnte es jetzt den Grünen gehen. Natürlich kann es auch wieder eine rot-grüne Koalition geben. Als Projekt wäre das aber nicht mehr interessant.
Tatsächlich scheinen sich die politischen Lager aber wieder zu verfestigen.
Ich bin skeptisch, ob es das viel zitierte linke Lager überhaupt gibt. Natürlich gibt es einen Wählertypus, der hinter der Idee einer linken Mehrheit steht. Aber darin gehen SPD und Grüne nicht auf, und die Linkspartei geht darin schon gar nicht auf. Da sammelt sich auch ein populistisches Potenzial, das bei anderer Gelegenheit schon mal für Roland Schill votiert.
Wenn sich die Lager auflösen und alle mit allen koalieren, was spricht dann gegen Bündnisse mit der Linkspartei?
Gar nichts. Ich habe zwar große Vorbehalte gegen die Substanz der Linkspartei. Aber statt wie jetzt in Hessen lange herumzueiern, sollte man der Linken lieber zwei Ressorts anbieten und sie formell in eine Koalition einbinden. Dann wird man sehen, ob sie den Praxistest besteht. Taktisch wäre Rot-Rot-Grün in Hessen für Schwarz-Grün in Hamburg sogar gut. Damit könnten die Grünen den Skeptikern unter ihren Stammwählern signalisieren, dass die Koalition mit der CDU kein Abdriften in ein anderes Lager bedeutet.
Wenn es bei der Bundestagswahl 2009 für Schwarz-Grün allein nicht reicht: Wäre ein Jamaika-Bündnis mit der FDP denkbar?
Dreierbündnisse sind immer sehr schwierig. An die Bremer Ampel denken alle Beteiligten mit sehr schlechten Gefühlen zurück. Wenn es die einzige Möglichkeit ist, eine große Koalition zu verhindern, sollten die Parteien allerdings über ihren Schatten springen und die programmatischen Überlappungen ausloten. Bei Jamaika müsste man sich ein Dreieck vorstellen: FDP und Grüne eint die bürgerrechtliche Skepsis vor dem starken Staat, CDU und Grüne treffen sich bei der Generationengerechtigkeit, CDU und FDP haben ihre Gemeinsamkeiten in der Wirtschaftspolitik.
Sie haben einmal geschrieben, die große gesellschaftliche Kluft trenne heute nicht Rechte und Linke, sondern kulturelle Optimisten und kulturelle Pessimisten. Wo verorten Sie die jetzigen Koalitionsoptionen?
Die Linkspartei ist der Inbegriff des kulturellen Pessimismus, der in seiner düsteren Weltsicht alles zusammenbrechen sieht. Die SPD ist unentschieden, ob sie ihre unter Rot-Grün begonnene Entwicklung zu einer kulturoptimistischen Partei fortsetzen soll. Das ist der Kern des Kampfes, den sie gerade mit sich selbst führt. Die Grünen müssten sich endgültig von einer Weltsicht der Bedrohungsgefühle und des Untergangs verabschieden.
Also Elbvertiefung und Kohlekraftwerk abnicken?
Zumindest etwas vorsichtiger mit ihrer Skepsis gegen alle Großprojekte umgehen. Sie müssten wenigstens in Rechnung stellen, dass man etwa die mehreren tausend Arbeitsplätze der Norddeutschen Affinerie in Hamburg halten möchte. Die Erzeugung von Kupfer braucht nun mal viel Strom, den man sonst aus französischen Atomkraftwerken importieren müsste.
Fehlt einer schwarz-grünen Koalition der Besserverdienenden das soziale Korrektiv, ein Gefühl für die Nöte der Unterschichten?
Das Schöne an der Demokratie ist: Jede Koalition repräsentiert im Parlament eine Mehrheit der Bevölkerung - und nicht etwa die zehn Prozent der Bestverdienenden. Wenn man die Statistiken über das Durchschnittseinkommen der Parteianhänger betrachtet, dann gilt das für die Volkspartei CDU sogar mehr als für die Grünen. Da finden Sie Arbeiter, einfache Angestellte, viele Rentner. Das sind durchaus die einfachen Leute, wenn auch nicht unbedingt die arbeitslosen Jugendlichen aus Wilhelmsburg.
Der Parteienforscher Franz Walter meint, die Grünen hätten die unpolitischste Wählerschaft. Im Grunde gehe es nur um Image und Ästhetik.
Das sehe ich anders. Die Grünen haben die politisch gebildetste Wählerschaft aller Parteien. Ihre Anhänger lesen Zeitung, schauen die "Tagesthemen", hören den Deutschlandfunk. Der Unterschied ist nur: Grünen-Wähler können es sich aus ökonomischen Gründen leisten, weniger als andere eine eigene Interessenpolitik zu machen und bei ihrer Wahlentscheidung nicht nur die nächste Rentenerhöhung im Blick zu haben. Daher rühren die postmaterielle Orientierung und die starke soziale Empathie.
Geht dieser moralische Mehrwert in einer Koalition mit der CDU verloren?
Das hängt vom Ergebnis der Koalitionsverhandlungen ab, etwa in der Bildungspolitik. Wenn die Grünen die Abschaffung des Gymnasiums nicht durchsetzen können, wäre das allerdings eher gut. Auch im Interesse der eigenen Wählerschaft, die ihre Kinder sonst auf Privatschulen schicken oder ins benachbarte Niedersachsen auswandern würde.
Viel Aufsehen haben Sie vor einigen Jahren mit der These erregt, das Problem der Unterschichten sei vor allem zu starker Konsum von Fernsehen und Fastfood. Das klang nicht gerade, als würden Sie die Sorgen der kleinen Leute verstehen.
Da bin ich gelegentlich missverstanden worden. Ich plädiere nicht dafür, Zwangsrationen mit Schwarzbrot und Grünzeug auszugeben. Ich wollte nur darauf hinweisen, dass Transferzahlungen nicht ausreichen, um Chancengleichheit herzustellen. Darüber gibt es inzwischen gar keinen Dissens mehr.
Ein Projekt der Mittelschicht bliebe Schwarz-Grün aber trotzdem?
Sicher. In anderen politischen Konstellationen ist das genauso, auch die sozialliberale Koalition war ein Projekt der Mittelschicht. Nur sie hat die Bildungs- und Finanzressourcen, um sich politisch zu engagieren.
Ist diese Mittelschicht nicht längst erodiert?
Wir sollten uns nicht einreden lassen, es gebe in dieser Gesellschaft nur noch Zumwinkels und Hartz-IV-Empfänger. Die Mittelschichten stellen immer noch die große Mehrheit der Bevölkerung, und sie verfügen nach wie vor über ein hohes Maß an Lebenssicherheit. Ich halte die Diagnose für falsch, dass sich die Mehrheit der Gesellschaft kurz vor dem Absturz befindet. Nicht nur im öffentlichen Dienst, auch in Dienstleistung und Industrie sind langfristige, reguläre Beschäftigungsverhältnisse immer noch die Regel.
Selbst wenn die Mittelschicht objektiv nicht vor dem Absturz steht: Sie fühlt sich subjektiv davon bedroht.
Diese Ängste gibt es, und die Volksparteien müssen sie ernst nehmen. Das heißt aber nicht, sie in jeder Hinsicht materiell zu befriedigen. Wir haben viel zu lange Sozialpolitik für die Mittelschichten gemacht. Das hat sich ein wenig geändert, daher rührt ein Teil der Absturzpanik - wenn etwa der Ingenieur sagt: Ich war doch etwas Besseres als die Verkäuferin, warum bekomme ich nach zwölf Monaten nur noch das gleiche Arbeitslosengeld? Da muss die Politik auch den Mut haben, zu sagen: Vielleicht sind eure Ängste etwas übersteigert.
Ihr bekanntestes Buch, vor vier Jahren erschienen, trägt den Titel "Generation Reform". Es fällt auf, dass auch Sie, wie neuerdings die meisten Politiker hierzulande, das Wort "Reform" nicht mehr verwenden.
Man muss zur Kenntnis nehmen, dass der Begriff zu Tode geritten wurde. Er hat seine Funktion erfüllt. Jetzt kommt es darauf an, sachlichere Formeln für die Gesellschaft der Zukunft zu finden.
Könnte "Integration" eine solche Formel sein - von der Bildung bis zur Einwanderung?
Das klingt mir zu wohlgefällig und statisch. Mir ist der sozialdemokratische Begriff der Teilhabe sympathischer, oder auch der CDU-Begriff der Chancen. Es geht darum, unsere Gesellschaft flüssiger zu machen und mehr Aufstiegsprozesse zuzulassen.
Das wäre ein Projekt für Schwarz-Grün?
In Hamburg könnten die Grünen an den CDU-Slogan der "wachsenden Stadt" anknüpfen und sagen: Das genügt uns nicht. Wir machen daraus die "zusammen wachsende Stadt" - auseinandergeschrieben, damit es nicht zu harmonistisch wird. Das ist meine Empfehlung nach Hamburg.
INTERVIEW: RALPH BOLLMANN
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