piwik no script img

HistorialeRevolution reloaded

Mit einer knalligen Schlacht auf dem Alexanderplatz erinnert die Historiale an die Revolution von 1848. Zuschauer begeistern sich für Geschichte.

Da stimmt doch was nicht?! Pickelhauben unterm Fernsehturm Bild: AP

Der Knall geht durch Mark und Bein. Die Ohren schmerzen. Der Boden zittert. Schüsse fallen. Menschen schreien durcheinander. "Nieder mit dem Militär!", brüllt jemand wütend. "Es lebe die Republik!", schallt es von der anderen Seite des Alexanderplatzes. Zwanzig uniformierte Soldaten mit Pickelhauben und Gewehren kämpfen gegen aufständische Bürger. Und wieder eine laute Detonation. Die Soldaten zielen mit ihrer Kanone auf die Revolutionäre, die sich am Dienstagabend hinter einer Barrikade aus alten Holztüren und nicht ganz zeitgemäßem Pressspan verschanzt haben.

Trotz der heftigen Kämpfe fließt kein Blut. Rund 50 Akteure des Geschichtsvereins Historiale spielen nur die Märzrevolution nach. Vor exakt 160 Jahren, am 18. März 1848, zogen Berliner Arbeiter, Studenten, Intellektuelle und Bürger gemeinsam auf den Alexanderplatz, um für mehr Freiheiten und demokratische Mitbestimmung zu kämpfen. Diese Revolution betrachtet der Verein als Initialzündung für viele demokratische Errungenschaften. Daran erinnert er in dieser Woche mit einem umfangreichen Programm. So finden beispielsweise Stadtrundgänge zu den Schauplätzen der Revolution statt, darunter zu den ehemaligen Zellengefängnissen in Moabit. Am Samstag werden die Toten der Revolution gewürdigt, indem man sie auf dem Gendarmenmarkt mit 183 Särgen symbolisch aufbahrt.

Am Jahrestag der Revolution aber tobt die historische Schlacht. Ein Mädchen macht begeistert Fotos und klärt ihre Mutter über die Ereignisse des 18. März 1848 auf. Sie besucht die 9. Klasse eines Gymnasiums. Dort haben sie das Thema "Märzrevolution von 1848" bereits durchgenommen. Auch die Mutter ist ganz beeindruckt von dieser lebendigen Art der Geschichtsdarstellung. "Da kann man sich doch auch besser vorstellen, wie sich die Mönche jetzt in Tibet den chinesischen Soldaten entgegenstellen", erklärt sie. Die Freundin der Tochter hatte das Thema noch nicht in der Schule. "Aber jetzt freue ich mich schon auf den Geschichtsunterricht."

Viele der rund 300 Zuschauer wollen so lange nicht warten. Sie haben ihr Handy ans Ohr gepresst und versuchen, Daheimgebliebene noch an den Alexanderplatz zu locken. Dort sind mittlerweile Zeitzeugenberichte per Lautsprecher zugeschaltet. Eine Mutter aus dem Jahr 1848 erzählt, dass sie vom Land nach Berlin gezogen ist, weil es dort mehr Jobs geben sollte. "Arbeitsplätze gibt es schon, aber die Arbeitsbedingungen sind furchtbar. Ich arbeite täglich über zehn Stunden lang und kann meine Kinder kaum durchfüttern. Deswegen bin ich heute mit auf die Straße gegangen. Meine Kinder sind bei meiner Schwester, damit sie, wenn mir etwas passiert, so gut es geht versorgt sind", schallt es aus dem Off.

Dann wird die Stimme vom Barrikadensturm der königlichen Garde übertönt. Sie stößt auf verbissenen Widerstand der Bürger. Deren Anführer war vor 160 Jahren der Tierarzt Ludwig Urban. Sein heutiger Darsteller trägt ein blaues Sakko, weiße, enge Hosen und einen Zylinder auf dem Kopf. Er hält seinen ausgestreckten Arm mit der im Wind flatternden schwarz-rot-goldenen Flagge noch ein paar Zentimeter mehr in die Höhe. So, als könne er damit die Soldaten zurückdrängen. "Geil, ich will auch mitmachen!", brüllt ein Jugendlicher begeistert und reißt den Arm mit geballter Faust hoch. Verzückt starren er und seine Kumpels auf die kriegsähnlichen Szenen.

Ein Rentner im Publikum erklärt den um ihn herumstehenden Zuschauern, dass "die Berliner König Friedrich Wilhelm IV. damals einen Kopf kürzer machen wollten". Auch wenn das nicht ganz stimmt, Raum für Interpretation ist auf dem Alexanderplatz am heutigen Tag genug.

Neben der Absperrung für die Geschichtsdarsteller ist eine Baustelle. Die Arbeiter sehen dem Treiben aus dem dritten Stock des Rohbaus verdutzt zu. Auf ihren Käsestullen kauend blicken sie auf Frauen in Kleidern aus dem 19. Jahrhundert hinunter, die versuchen, ihre Kinder vor den Kämpfenden in Sicherheit zu bringen. So viel Entertainment bei der Arbeit hatten sie an diesem Tag gar nicht erwartet. Wie ein Magnet wirkt die Schlacht am Alexanderplatz. Kaum ein Passant bleibt ungerührt vom Donnerhall. Der Ostermarkt ein paar Meter weiter am Brunnen der Völkerfreundschaft wirkt ziemlich verlassen. Die Händler versuchen die Revolution durch laute Popmusik zu übertrumpfen. "California Blue", jault es durch den frostigen Märzabend. Doch Roy Orbisons Hymne an einen strahlenden amerikanischen Himmel kann in dieser Nacht keine Revolution plattmachen. 1848 hatte das nicht einmal die königliche Garde geschafft. Die Bürgerbarrikade in der Königsstraße am Alexanderplatz war die einzige, die widerstehen konnte, bis der König seine Soldaten abzog.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!