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Archiv-Artikel

„Hirsebrei statt Kasseler“

GESCHICHTE Die einen erforschen das Mittelalter mit wissenschaftlichen Methoden, andere wollen in die Vergangenheit eintauchen. Eine Tagung in Vechta will die beiden Gruppen an einen Tisch holen. Archäologe Michael Wesemann über das Geschäft mit Histo-Tainment

Michael Wesemann, 50

■ ist Autor und Grabungstechniker beim niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege und aktiv im Archäologie-Projekt Archae.Foto: privat

taz: Herr Wesemann, in Vechta soll eine Brücke geschlagen werden zwischen der wissenschaftlichen Mittelalterforschung und der populärkulturellen Begeisterung für diese Epoche. Können sich diese beiden Welten gegenseitig inspirieren?

Michael Wesemann: Man muss da genau trennen: Die Experimentelle Archäologie ist eine Wissenschaft, die erstmal nichts mit öffentlichen Vorführungen zu tun hat. Hier werden Hypothesen aufgestellt und in einem Experiment überprüft. Bei der Lebendigen Archäologie dagegen geht es um Vermittlung. „Reenactment“ nennt man die Neuinszenierung einer historischen Begebenheit, typischerweise einer Schlacht. Von „Living History“ spricht man, wenn das Leben einer vergangenen Zeit dargestellt wird. Von dort kann ein Rückfluss in die Wissenschaft stattfinden. Zum Beispiel können die von der Forschung rekonstruierten Arbeitstechniken angewandt und zurückgemeldet werden: „Das funktioniert in der Praxis nicht.“ Aber in Deutschland findet dieser Austausch nicht statt. Da gibt es große Berührungsängste zwischen beiden Szenen, die können sich gegenseitig nicht aufs Fell gucken.

Sind die Vorbehalte von Wissenschaftlern gegen die Living History-Szene berechtigt?

Meine Gefühle sind widersprüchlich, wenn ich über einen Mittelaltermarkt gehe. Einerseits habe ich großen Respekt vor der Mühe, mit der von einigen das Mittelalter nachvollzogen wird. Andererseits werden die Besucher auch verarscht. Mit dem „Histo-Tainment“ wird das meiste Geld verdient. Live-Rollenspiele finden mehr als 1.200 Mal pro Jahr in Deutschland statt, und der Markt wächst noch. Aber die hier verdienen, wissen selbst, dass sie Klischees bedienen. Sie sollten lieber auf den Mummenschanz verzichten und ein Mittelalter zeigen, wie es gewesen sein könnte. Das kostet mehr Mühe, aber es geht.

Das sind harte Worte. Worin besteht die Verarschung?

Hier werden alle Sinne bedient. Durch die Intensität der Eindrücke verfestigt sich das klischeehafte Bild vom Mittelalter. Zum Beispiel der „Marktsprech“: Es gibt Kurse, um den zu lernen. Dabei hat niemand je so gesprochen. Allgegenwärtig ist auch der Kasseler im Weißmehlbrötchen.

Könnte man es besser machen?

Man müsste Dinge anbieten, die uns fremd vorkommen: Hirsebrei statt Kasseler. Das schmeckt wie Porridge mit exotischen Gewürzen. Die Leute, die es sich leisten konnten, haben mächtig mit Gewürzen experimentiert. Wie in der Musik steckte auch in der Küche viel Morgenland.

Interessant!

Ja, interessant genug, um es an Stelle der Gröhlerei und Sauferei vorzuführen. Genauso das Handwerk: Das war nicht grob, dreckig und dunkel, dahinter steckte große Kunstfertigkeit. Es gibt Leute, die können das auch vorführen.

Ist das auch Lobbyarbeit für die Archäologie?

Auf die Landespolitik hat das leider keinen Einfluss. Da wird immer mehr gespart an der Archäologie. Aber regional kann man viel erreichen. Lokalpolitiker und die Wirtschaft entdecken die Archäologie als Tourismusfaktor. Ein positives Beispiel ist der rekonstruierte Bronzezeithof Uelsen in der Grafschaft Bentheim. Die Gemeinde hat wirklich den Schuss gehört. Es wäre zu wünschen, dass „Living History“ die Menschen auf das aufmerksam machen würde, was sie aus der Vergangenheit noch haben. In Nienburg wurde ein Haus abgerissen, obwohl Holzproben ergeben haben, dass es sich um das älteste Haus der Stadt handelt. Vielleicht werden die Leute gegen solche Entscheidungen protestieren, wenn sie für historisches Erbe sensibilisiert sind.

Begeisterung für ein verklärtes Mittelalter gab es schon in früheren Epochen. Kann es sein, dass „Living History“ mehr über unsere Zeit aussagt als über das Mittelalter?

Auf jeden Fall! Im Zuge der Nationalromantik im 19. Jahrhundert hat man angeblich mittelalterliche Tugenden wie Treue und Ehre hochgehalten und etwas, was es im Mittelalter auf keinen Fall gegeben hat: Nationalismus. Davon sind wir weg. Was davon übrig geblieben ist? Die Männer bei den Mittelalterspektakeln wollen Met trinken und Fleisch essen und beim Essen rülpsen. Und eine klare Rollenverteilung: Männer kämpfen und saufen, Frauen sind in der Küche.INTERVIEW: ANNEDORE BEELTE

3. und 4. 7. Öffentliche Tagung „Mediävalismus im Spannungsfeld von Wissenschaft, Museum und populärer Geschichtskultur“ im Museum im Zeughaus Vechta. Ausstellung „Mein, dein, unser Mittelalter“ vom 4. 7. bis 1. 8.