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Hirschforschung: Uwe Kierdorf erforscht in Hildesheim Geweihe."Geweihe sind Umwelt-Archive"

Geweihe erzählen nicht nur, wie viel Blei um 1750 in der Luft war und wie sich Atomtests auswirken: Hirsche sind auch Experten für Knochenwachstum und daher für die Osteoporose-Forschung wichtig.

Betreiben alljährlich einen Riesenaufwand für ihr Geweih: Hirsche. Bild: dpa
Interview von Petra Schellen

taz: Herr Kierdorf, warum erforschen Sie Hirschgeweihe?

Uwe Kierdorf: Geweihe sind in zweierlei Hinsicht interessant. Einerseits sind sie Umwelt-Archive. Andererseits sind Hirsche Experten für Knochenaufbau.

Beginnen wir mit den Umwelt-Archiven.

Im Geweih lagern sich gewisse Substanzen ab – Blei, Fluorit und das radioaktive Isotop Strontium-90 zum Beispiel. Anhand eines Geweihs können wir daher erforschen, wie stark die Umweltbelastung vor und nach der Industrialisierung beziehungsweise vor und nach der Einführung des bleifreien Benzins war.

Und vor und nach Atomtests und Tschernobyl.

Ja, das waren Ende der 50er Jahre sogar die ersten diesbezüglichen Studien. Damals hat man Strontium-90 in den Geweihen gefunden und es in Zusammenhang mit den atmosphärischen Atombomben-Tests gebracht.

Was kam heraus?

Dass sich Radionukleide global verteilen. Wenn man in einer Wüste der USA eine Bombe zündet, haben die europäischen Hirsche nach ein paar Monaten massiv Strontium-90 im Geweih.

Wie alt war das älteste Geweih, das Sie untersucht haben?

Es stammte aus der Zeit relativ kurz nach dem 30-jährigen Krieg, also aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts.

Kann man am Geweih auch das Alter des Tiers ablesen?

Das ist einer der populären Irrtümer: dass man nur die Enden des Rothirsch-Geweihs zählen muss, um das Alter des Tiers in Jahren anzugeben. Aber so einfach ist es nicht. Natürlich stimmt es, dass das erste Geweih beim Rothirsch aus nicht verzweigten Stangen besteht und dass die folgenden Geweihe für einige Jahre größer und komplexer werden. Wenn der Hirsch seinen Zenit überschritten hat, werden die Geweihe aber wieder kleiner.

Können Sie das Entstehungsjahr eines Geweihs erkennen?

Nein. Ich muss darauf vertrauen, dass die Beschriftung stimmt.

Wo finden Sie so alte Geweihe?

In privaten Sammlungen oder Schlössern.

Wie schnell wächst ein Geweih?

Der Rothirsch etwa wirft sein Geweih Ende Februar bis März ab und bildet dann ein neues Geweih, das er im Juli oder August abwirft. Das Geweih wächst um bis zu zwei Zentimeter täglich.

Ein großer Aufwand von Mutter Natur.

Ja, die Tiere – übrigens die einzigen Säugetiere mit solch einem Regenerationsmechanismus – müssen – wie der erwachsene Rothirsch – in 3,5 Monaten eine Struktur mit 12 bis 14 Kilo Knochenmasse bilden. Dafür braucht der Hirsch sehr viel Kalzium und Phosphor. Weil er aber während der Geweihbildungs-Phase nicht genug davon über die Nahrung aufnehmen kann, baut er vorübergehend Teile anderer Knochen ab – der Rippen zum Beispiel. Wenn das Geweih fertig ist, baut er die Rippenknochen wieder auf. Es gibt im Skelett des Hirschs also einen zyklischen Knochenab- und -anbau.

Wozu muss man das wissen?

Es ist für die Osteoporoseforschung interessant. Auch hier werden über längere Zeit mehr Knochen ab- als aufgebaut, sodass sich die Knochenmasse verringert. Anders als der Hirsch kann der Mensch das aber nicht kompensieren. Es gibt auch noch kein Medikament, das zuverlässig die Bildung mechanisch stabiler Knochensubstanz bewirkt. Wenn wir also den Mechanismus des Hirschs verstehen, können wir vielleicht endlich ein wirksames Osteoporose-Medikament entwickeln.

Ihre Forschung besteht also aus Laboranalysen?

Unter anderem. Für manche Experimente braucht man allerdings Versuchstiere, denen man bestimmte Substanzen injiziert. Für andere Untersuchungen wiederum braucht man frische Geweihzellen.

Und die Geweihe sägen Sie den Versuchtstieren bei vollem Bewusstsein ab?

Nein, das ist für die Tiere schmerzhaft und in der EU verboten. Anderswo ist es aber erlaubt. Die Betreiber kommerzieller Hirschfarmen in Neuseeland etwa verdienen einen erheblichen Teil ihre Einkommens dadurch, dass sie diese Geweihe absägen und verkaufen.

Werden die Tiere dort nicht betäubt?

Nicht pharmakologisch, weil die Betäubungs-Substanz ins Geweih gelangen würde, und das wollen die Kunden nicht. Die Farmer ziehen deshalb dicke Gummiringe um das Geweih, sodass es taub wird – wie ein eingeschlafenes Bein etwa – und sägen es dann ab. Über die Wirkung dieses Verfahrens auf die Tiere gibt es Studien. Ihnen zufolge funktioniert es einigermaßen.

Und wie beschaffen Sie sich frische Geweih-Zellen?

Die Gewebeproben, die wir in den letzten Jahren untersucht haben, stammten von Tieren, die wir vorher erschossen hatten. Wenn ich aber ein Experiment mache, bei dem ich das Tier eine Zeit lang beobachte, brauche ich es lebend. Dann muss ich die Stellungnahme einer Ethik-Kommission einholen, um die Genehmigung für einen Tierversuch zu bekommen. Denn erstens soll dem Tier kein vermeidbares Leiden zugefügt werden, und zweitens muss der Eingriff im Verhältnis zum Erkenntnisgewinn stehen.

Fällt es Ihnen schwer, etwas zu tun, das dem Tier Schmerzen bereitet?

Ich würde kein Experiment machen, das dem Tier dauerhaft Schmerzen zufügt. Und wir betäuben die Tiere natürlich, bevor wir Gewebeproben entnehmen. Aber nach Abklingen der Betäubung hat es – wie ich nach dem Zahnziehen – vielleicht noch für kurze Zeit leichte Schmerzen. Das muss man in Kauf nehmen.

Trösten oder belohnen Sie das Tier danach?

Die Tiere müssen natürlich gut versorgt werden, das ist klar. Dass sie für tröstenden Zuspruch empfänglich sind, halte ich aber eher für eine Deutung des Menschen. Das mache ich vielleicht für meinen Hund: Wenn er beim Tierarzt seine Spritze kriegt, bekommt er ein Leckerchen. Aber auch hier ist die Frage, ob ich das nicht eher tue, um mich selbst besser zu fühlen.

Wie viele Versuchstiere haben Sie?

In Hildesheim haben wir gar keine. Wir arbeiten aber mit spanischen Kollegen zusammen, die eine Tierversuchsherde haben. Sie ergründen gerade, wie sich der Geweihknochen bildet.

Apropos: Wenn vom Geweih außerplanmäßig etwas abbricht: Wächst es perfekt nach?

Wenn es eine starke Verletzung des wachsenden Geweihs ist, wird sich eine abnorm geformte Geweihstange bilden. Das ist aber kein Problem, weil sie ja abgeworfen und im nächsten Jahr durch eine neue ersetzt wird.

Am Geweih der nächsten Saison wird man nicht erkennen, wo einst die Verletzung war?

Das ist umstritten. Ein befreundeter kanadischer Forscher vermutet, dass der Hirsch eine Art trophisches Gedächtnis hat. Das heißt, dass an der Stelle, wo das vorjährige Geweih verletzt war, eine Abnormität entsteht – ein zusätzliches Ende oder so etwas.

Sie glauben das nicht?

Es gibt in meinen Augen noch nicht genug Belege für diese Hypothese. Die Frage ist auch, wie die Erinnerung an die einstige Verletzung aufrecht erhalten wird. Im Geweih selbst kann sie nicht gespeichert werden, weil das ja abgeworfen wird. Es müsste also einen Informationsfluss vom Geweih zum zentralen Nervensystem geben. Dort müsste die Information über Monate gespeichert, in der nächsten Geweihbildungsphase abgerufen und an die richtige Stelle transportiert werden. Die These ist hoch interessant, aber dass es diese Art von Erinnerung gibt, ist noch nicht zweifelsfrei belegt.

Hängen bei Ihnen zu Hause Geweihe an der Wand?

Ja. Aber nur solche, zu denen ich eine persönliche Beziehung habe.

Sind Sie Jäger?

Ja. Aber meine Geweihe zu Hause habe ich von meinem Vater geerbt. Auch er war Jäger.

Können Sie sich vorstellen, irgendetwas anderes zu machen als Geweihforschung?

Ich betreibe ja nicht nur Geweihforschung. Da es vom Experiment bis zur Auswertung meist lange dauert, habe ich reichlich Zeit für andere Dinge. Wir haben hier am Institut zum Beispiel eine Arbeitsgruppe, die sich mit menschlicher Knochenpathologie befasst – auch bei Skeletten aus archäologischen Grabungen. Außerdem forschen wir über Umwelteinflüsse auf die Zahnhartsubstanzen. Aber letztlich haben all diese Forschungen natürlich mit mineralisierten Geweben zu tun. Und die interessieren mich immer noch brennend.

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