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Hilferufe aus Afghanistan

Der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg bekommt jeden Tag E-Mails und Anrufe von Menschen aus Afghanistan, die Angst haben. Um das eigene Leben, um das von Geschwistern und Eltern. Wie geht man damit um? Seán McGinley, Leiter der Geschäftsstelle in Stuttgart, erzählt.

„Kein Tag ohne Anfragen, ob wir helfen können.“ Seán McGinley macht Europas Abschottungsregime verantwortlich. Foto: Joachim E. Röttgers

Von Anna Hunger (Protokoll)↓

Die Mails mit den Hilferufen haben etwa Anfang August angefangen, sich zu häufen. Kurz nachdem in Afghanistan passiert ist, was angeblich alle so überrascht hat, und die Taliban innerhalb weniger Tage auch die Teile des Landes aufgerollt hatten, die noch nicht unter ihrer Kontrolle standen. Wir bekommen Mails von allen möglichen Menschen aus Afghanistan. Von solchen, die für den Westen gearbeitet haben, die in Afghanistan persönlich exponiert waren, weil sie sich politisch engagiert hatten oder für Frauenrechte eingetreten waren oder in Diensten der vorherigen afghanischen Regierung standen – Berater, Soldaten, Polizisten. Seit Anfang August ist kein Tag vergangen ohne Anfragen, ob wir helfen können. An den meisten Tagen bekommen wir mehrere Mails, manchmal Anrufe. Heute hatte ich Telefonberatung und die ersten beiden Anrufer waren Afghanen in Deutschland, die wissen wollten, wie sie ihre Eltern und Geschwister herholen können. All diesen Menschen muss ich sagen und schreiben, dass das nicht möglich sein wird, weil es politisch nicht gewollt ist. Es gibt ja nur einen kleinen Kreis von Leuten, die überhaupt die Aussicht haben rausgeholt zu werden, und selbst die müssen selber gucken, wie sie in einer deutschen Botschaft den Antrag stellen können.

Gestern hat sich ein Afghane gemeldet, der in Baden-Württemberg lebt und seine beiden minderjährigen Geschwister herholen will. Die Eltern sind tot, die beiden sind alleine in Afghanistan und haben niemanden, der sich um sie kümmert. In diesem Fall gibt es sogar eine Chance auf ein Visum, wenn sie es zu einer deutschen Botschaft schaffen. Die in Kabul hat zu, also müssen sie zu einer Botschaft in einem Nachbarland: in Pakistan, Tadschikistan oder dem Iran. Wie sie das machen, ist aber deren Sache, da kann ich nichts dazu beitragen und ich kann auch keinem guten Gewissens sagen, ob sie versuchen sollen, es aus dem Land rauszuschaffen oder nicht. Das ist lebensgefährlich.

„Die Menschen schreiben aus Verzweiflung“

Uns hat zum Beispiel ein ehemaliger Bürgermeister geschrieben und um Hilfe gebeten; eine Frau, die Polizistin war und die jetzt Angst davor hat, von den Taliban gefunden zu werden; uns schreiben Menschen, die Angst um ihre Schwestern haben. Meine Kollegin hat an einer Veranstaltung mit einer Afghanistan-Expertin teilgenommen, die berichtete, dass Taliban versuchen, die Frauen aus regierungsnahen Familien zwangszuverheiraten, um die Familien unter ihre Kontrolle zu bekommen.

Oft senden die Leute Dokumente mit: Fotos, Unterlagen, Arbeitszeugnisse, Zertifikate, die untermauern, was sie berichten. Natürlich kann ich nicht überprüfen, ob die alle echt sind, aber es besteht ja kein Zweifel, dass sehr viele Menschen in Afghanistan aktuell gefährdet sind. Und wenn es welche wären, die nicht gefährdet sind, brächte es ihnen ja auch nichts. Die kommen ja auch nicht weg.

Wahrscheinlich hat jede Organisation, die mit Asyl und Flucht zu tun hat, solche Anfragen bekommen. Von Pro Asyl und den anderen Landesflüchtlingsräten weiß ich jedenfalls, dass es so ist. Ich gehe davon aus, dass die Menschen in ihrer Verzweiflung alle möglichen Stellen anschreiben, nicht nur die deutschen, denn viele der Menschen haben keinen ersichtlichen Bezug zu Deutschland. Über mehrere Ecken haben wir von irgendwelchen Listen gehört, die das Auswärtige Amt annehmen würde, um mögliche Aufnahmezusagen

zu prüfen. Einmal haben wir für eine solche Liste kurzfristig um die 30 Fälle zusammengestellt. Da viele andere Organisationen das Gleiche getan haben, waren am Ende wohl über 1000 Leute drauf. Ich kann mir nicht vorstellen, dass mehr als eine Handvoll berücksichtigt werden können. Ob da überhaupt was draus wird, weiß ich nicht. Das ist auch das Problem: Einerseits möchte man nichts unversucht lassen, jede kleine Chance nutzen, den Menschen zu helfen. Aber das ist auch die große Gefahr: dass man Leuten falsche Hoffnungen macht. Denn die ehrliche Antwort ist: Tut uns sehr leid, es gibt nichts, was wir tun können. Das möchte man nicht so knallhart sagen, deshalb sagt man, ja, theoretisch gibt es die und die Möglichkeit, aber in den allermeisten Fällen wird das nicht funktionieren.

„Es ist beschämend“

Das ist schlimm, aber ich bin so etwas leider gewohnt, weil es so oft vorkommt. Ich erinnere mich an einen Anruf von einem Syrer vor einigen Jahren, der sagte, eine meiner Schwestern sitzt in Aleppo in einem Keller und das Haus über ihr wird gerade zerbombt, ihr Mann sei schon umgebracht worden – „Könnt ihr sie bitte nach Deutschland holen?“ Da kann ich auch nichts machen. Das ist leider einfach so aufgrund der rechtlichen Rahmenbedingungen, das ist Ausdruck des politischen Willens der Herrschenden.

Es gab einen Versuch von Thüringen, ein Landesaufnahmeprogramm für gefährdete Menschen aus Afghanistan zu starten, als noch westliche Kräfte dort waren. Das hat Bundesinnenminister Horst Seehofer verhindert und jetzt ist die Möglichkeit vorbei. Es ist beschämend. Ich habe das Gefühl, dass es viele Leute gibt, die nicht in Ordnung finden, was da gerade passiert. Und das sind nicht unbedingt diejenigen, die bei diesem Thema sonst sowieso immer auf unserer Seite stehen.

Es wird sehr viele Menschen geben, die auf dem Weg von Afghanistan nach Europa umkommen, die es nicht schaffen werden. Die meisten Fluchtrouten sind dicht. Das ist nichts Neues, aber das ist das Grundübel des Asylrechts. Es gibt Menschen, bei denen es völlig unstrittig wäre, dass sie Asyl bekommen würden, wenn sie es denn schaffen hier aufzuschlagen. Aber wie sie herkommen, ist deren Sache. Deutschland und Europa gewähren ein Recht, aber keine Möglichkeit, dieses Recht in Anspruch zu nehmen, ohne sein Leben zu riskieren und Gesetze zu brechen. Das ist völlig absurd, aber ein Grundcharakteristikum der Flüchtlingspolitik weltweit.

Seit 2015 ist das ganze europäische Abschottungsregime hochgerüstet worden. Für die Menschen aus Afghanistan ist es sehr viel schwerer, sich in Sicherheit zu bringen, als es für die Menschen war, die vor dem syrischen Bürgerkrieg geflohen sind. 2015: das Schreckgespenst der Poli­tik. Jemandem wie Armin Laschet fällt angesichts der aktuellen Situation in Afghanistan nichts Besseres ein als zu sagen, 2015 darf sich nicht wiederholen. Es gibt viele Jahre in Deutschland, die sich nicht wiederholen sollten. Aber 2015 gehört nicht dazu.

Am heutigen Samstag, 2. Oktober, gibt es auf dem Stuttgarter Marienplatz eine Kundgebung unter dem Motto „Solidarität mit der afghanischen Bevölkerung“. Organisiert u. a. von der afghanischen Community, dem Flüchtlingsrat Baden-Württemberg und dem AK Asyl Stuttgart.

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