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Hilfe für den Zappelphilipp

■ Acht Prozent aller Kinder sind hyperaktiv / Störung angeboren

Der Komponist Wolfgang Amadeus Mozart war so und der Schriftsteller Hermann Hesse wohl auch: Obwohl sehr begabt, sind sie wie der Zappelphilipp im „Struwwelpeter“ nicht zu zähmen und als ständiger Angriff auf die Nerven schlicht oft eine Zumutung für ihre Umgebung. Hyperkinetische oder hyperaktive Kinder und Erwachsene sind wohl identischer mit sich als die meisten Menschen, aber sie ecken nur an und deshalb leiden sie, werden zu Außenseitern, schildert der Diplom-Psychologe Georg Wolff von der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Nach langen Erfahrungen mit dem Hyperkinetischen Syndrom (HKS) hat Wolff sich jetzt in Hannover mit anderen Therapeuten in einem Forum zusammengefunden.

„Ich habe sehr, sehr viele solcher Kinder gesehen, und über den Austausch mit Erziehungs- und psychosozialen Beratungsstellen sowie psychologischen Fachleuten bin ich ganz glücklich“, sagt Wolff. Durch das HKS-Forum „wird der Austausch über Diagnostik und verschiedene Behandlungsansätze verbessert“. Etwa acht Prozent aller Kinder sind von dieser Störung betroffen, Jungen im Verhältnis acht zu eins wesentlich mehr als Mädchen. In jeder Schulklasse sitzen ein bis zwei hyperaktive Kinder. Aber nur die Hälfte seien behandlungsbedürftig.

Die Ursachen für das HKS sind nicht eindeutig klar, erklärt Wolff. Es gibt Anzeichen, daß das HK-Syndrom vererbbar ist. Viele Mütter berichten, daß ihre hyperkinetischen Kinder während der Schwangerschaft schon unruhiger waren als ihre Geschwister. „Wahrscheinlich liegt das Problem im Hirnstoffwechselbereich.“ Die „Batterie wird zu schnell leer, die Kinder ermüden leicht. Sie versuchen, sich über das Hampeln wach zu machen“.

Früher kamen hyperaktive Kinder als schwer erziehbar in Heime, weil die Störung nicht erkannt wurde. Sie können sich nicht konzentrieren, sind von zielloser Unruhe getrieben, springen immer wieder auf, fassen alles an, reden dazwischen, reagieren heftig und hocherregt und das erste Wort auf Anforderungen ist „nein“. In Kindergruppen wollen sie die Regeln bestimmen und ziehen wütend ab, wenn es nicht nach ihrem Kopf geht. Sie sind einfach „nicht geerdet“, „nerven unendlich und machen es nie mit Absicht“. Auf der anderen Seite können sie liebevoll mit Kleineren spielen, die ihre Anregungen gerne aufnehmen. Von klein auf sozial sehr offen, können Hyperaktive auch sehr charmant, humorvoll, lustig und fürsorglich sein.

Die Schulleistungen liegen meist unter dem Begabungsniveau, doch die von überforderten LehrerInnen als Ausweg gedachte Sonderschule „ist keine Lösung“. „Er will sich zusammennehmen, schafft es nicht und ist ganz unglücklich“, zitiert Wolff die Aussage einer Lehrerin über einen Elfjährigen. Viele Hyperkinetiker werden depressiv, weil sie „20 bis 30 Mal am Tag hören: So wie Du bist, bist Du nicht richtig.“ Sie „fühlen sich ungerecht behandelt und sind es ja auch“, sagt Wolff. Und das „eigentliche Drama in den Familien“ ist das schlechte Gewissen der Eltern, versagt zu haben. Wolff, der selbst einen hyperaktiven Sohn hat, empfiehlt Betroffenen, örtliche Beratungsstellen aufzusuchen.

Neben Aufklärung, Beratung und psychotherapeutischen Behandlungen „sind Medikamente (Ritalin und DL-Amphetamin) seit 1938 erfolgreich eingesetzt worden“. Rezepte und Dosierung gehen an das Bundesgesundheitsamt, eine Kontrolle „wie beim TÜV.“ Es habe noch keinen einzigen Bericht über ein Kind gegeben, daß davon abhängig geworden ist, schildert der Experte. Die Arzneien helfen den Kindern „richtiger zu werden“. In der Pubertät können die Symptome der Krankheit abklingen. Außerdem brauchen die Kinder Ruhe, und intensive Betreuung ohne Ablenkung bei den Schulaufgaben. „Stille Übungen sind für diese Kinder ein Bad für die Seele“, beobachteten Lehrer. Denn eigentlich ist das HK-Syndrom „ein Signal der Kinder an uns: Was habt Ihr für eine schreckliche Welt geschaffen – so laut und mit so vielen Anforderungen.“ Christina Freitag, dpa

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