Hierarchie im FC Bayern: Soziales Experiment
Ein entmachteter Kapitän, Streithähne auf dem Platz und unzufriedene Spieler. Beim 1:1 in der Champions League gegen Lyon offenbart sich ein gefährliches Machtvakuum im Team der Bayern.
Nach dem Abpfiff hatte es Martin Demichelis eilig. Der Argentinier wollte schnell runter vom Platz. Aber Zeit für eine Geste war noch. Sie richtete sich an seinen Mitspieler Lucio und bedeutete diesem, schnell hinter ihm herzukommen, um abseits der Kameralinsen weiter aufeinander einzubrüllen und Beleidigungen austauschen zu können. Körperkontakt nicht ausgeschlossen. Dieser Aufforderung kam Lucio unverzüglich nach. Die zwei Fußballprofis des FC Bayern, praktizierende Christen übrigens, drohten aufeinanderzuprallen wie brünftige Wapiti-Hirsche. Doch dann traten zwei Spielverderber, Co-Trainer Martin Vasquez und Bankdrücker José Ernesto Sosa, dazwischen und machten dem bemerkenswerten Schauspiel ein Ende.
Jürgen Klinsmann verfolgte das Treiben untätig, aber höchst interessiert. Der Bayerntrainer betreibt nämlich zurzeit eine pädagogische Feldforschung in der testosterongesteuerten Welt des Männerfußballs. Die Forschungsfrage lautet in etwa: Wie setzt sich die Hierarchie einer Mannschaft neu zusammen, wenn die alte durch Einflüsse von außen nicht mehr in Kraft ist? Das Thema interessiert Klinsmann schon länger. Eine seiner ersten Amtshandlungen als Bundestrainer war es, Oliver Kahn die Kapitänsbinde wegzunehmen und diese an Michael Ballack weiterzureichen.
Nun aber ist das Projekt ungleich komplexer. Klinsmann hat es bei den Bayern mit einer multinationalen Mannschaft zu tun, die fast das ganze Jahr über Tag für Tag zusammen ist, in der sich ständig unzählige kleinere und größere soziale Prozesse abspielen. Das ursprüngliche Alphatier dieser Gemeinschaft war schon weg, als Klinsmann kam: Oliver Kahn. Zunächst strebte Klinsmann eine simple Hierarchiebildung an. Er erklärte Mark van Bommel, den von seinem Vorgänger so geschätzten "Aggressivleader" (Hitzfeld 2007), zum neuen Kapitän einer Mannschaft, die personell fast die gleiche geblieben war. Der aber "spielte ein paar Mal schlecht nach Jürgens Meinung", so Uli Hoeneß, der Bayernmanager. Nun hat Klinsmann die Strategie geändert: Er greift aktiv und konfrontativ ein.
Zunächst begann er, den gerade erst inaugurierten Mark van Bommel zu demontieren, indem er ihn auf die Bank setzte und ein gleichberechtigtes "Duell" zwischen dem Niederländer, 31, und dem äußerst bieder spielenden Andreas Ottl, 23, um die Position im defensiven Mittelfeld ausrief. Nun, im Champions-League-Spiel gegen Olympique Lyon, setzte er beide auf die Bank und heizte einen neuen Konflikt an, den zwischen Demichelis und Lucio, beide sind Stellvertreter van Bommels im Kapitänsamt. Demichelis, in letzter Zeit zum Chef der Bayernabwehr avanciert, durfte plötzlich nicht mehr Innenverteidiger sein, sondern rückte vor auf die Sechserposition. Die musste er früher schon bei den Bayern ausfüllen, kann sie aber nicht ausstehen - auch weil er sich vor der Abwehr weniger für die Nationalmannschaft profilieren kann.
In der vergangenen Saison provozierte der Argentinier mit seinem Protest, viele wollten darin gar einen Streik sehen, bei diesem Thema sogar eine Suspendierung. Lucio dagegen konnte sich am Dienstagabend plötzlich wieder als Abwehrchef fühlen, zumal ihm Breno, ein 18-jähriger Landsmann, zur Seite stand. Einige Minuten, bevor die Partie gegen Lyon 1:1 geendet war, gerieten Lucio und Demichelis erstmals heftig aneinander - und beruhigten sich bis zum Schlusspfiff nicht mehr. Klinsmann setzt einen Reizpunkt nach dem anderen und lässt keinen Zweifel, dass er so weitermachen will. Die Versetzung von Demichelis sei "eine Variante, die wir weiter verfolgen werden".
Und der Argentinier ist nicht der einzige Spieler, der mit seinem Arbeitsplatz unzufrieden ist. Auch Außenverteidiger Philipp Lahm hat schon x-mal gesagt, dass er lieber rechts spielen würde. Doch nach dem Verkauf von Marcell Jansen, einem Mann für links, verpflichteten die Bayern Massimo Oddo, einen für rechts. Lahm muss nun erst recht links spielen. Zudem nagt es noch immer an ihm, dass er von Klinsmann bei der Besetzung des Mannschaftsrats übergangen wurde. Nach dem Lyon-Spiel betonte er - auch zum x-ten Mal: "Ich würde immer noch gern Kapitän werden." Er sagte nicht: "Das Thema ist für mich erst mal erledigt." Jürgen Klinsmann hat seine Freude am freien Spiel der sozialen Kräfte im Kader. Er sagt: "Die Mannschaft ist dabei, sich zu finden. Das ist ein sehr spannender Prozess, der nur über Leistung funktioniert, und den wir begleiten." Doch sein Forschungsprojekt birgt ein großes Risiko: dass nämlich ein Machtvakuum entsteht, unter dem der Teamgeist und letztlich auch die Spielweise leiden.
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