■ Heute beginnt in Budapest die Tagung der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE): Europa am Scheideweg
Fünf Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer steht der Checkpoint Charlie tausend Kilometer südwestlich der deutschen Hauptstadt – an einer Brücke über die Miljacka in Sarajevo. Meterhohe Stacheldrahtrollen zwischen Soldaten der bosnischen Regierungsarmee hüben und den Truppen der bosnischen Serben drüben symbolisieren die neuen Trennungslinien in Europa. Sie verlaufen zwischen Arm und Reich, Katholiken, Protestanten und „aufgeklärten“ Muslimen hier und Orthodoxen dort. Noch sind die Grenzen nicht endgültig festgefügt. Doch eine neue Landkarte der europäischen Teilung zeichnet sich immer deutlicher ab: auf „unserer“ Seite die Nato-Staaten, Skandinavien, Österreich, Kroatien, Slowenien, ein Teil Bosniens, Makedonien, die baltischen Staaten, Polen, Ungarn, die Tschechische Republik; auf der „Gegenseite“ Rußland, die Ukraine, Serbien, Montenegro und ein Teil Bosniens. Noch offen ist, wohin die Slowakei, Rumänien, Bulgarien und Albanien schließlich gehören werden. Das orthodoxe Griechenland wird auf der „Gegenseite“ landen – wenn sich die Logik der Teilung weiterhin durchsetzt.
Das muß nicht zwangsläufig so sein. Auch die europäische Entwicklung der letzten fünf Jahre war kein unentrinnbares Schicksal. Sie ist Ergebnis politischer Fehlentscheidungen, Versäumnisse und Überheblichkeiten – vor allem auf der westlichen Seite des Kontinents. Zahlreiche Analysen aus Ost- und Westeuropa, die frühzeitig vor falschen Weichenstellungen warnten, haben sich inzwischen weitgehend bestätigt. Ähnlich wie die warnenden Stimmen während des deutsch-deutschen Einigungsprozesses wurden sie zunächst jedoch verdrängt. Zu lange bestimmte das (Unter-)Bewußtsein vom „Sieg im Kalten Krieg“ die Politik in Europa.
Einer der Kardinalfehler war (und ist) die Vernachlässigung der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), der nach wie vor einzigen gesamteuropäischen Institution. Ihr heute beginnendes Budapester Gipfeltreffen, dessen Tagesordnung mit sämtlichen aktuellen Konflikten des Kontinents hoffnungslos überladen ist, wird vielen Beobachtern einmal mehr als Beweis der Schwäche oder gar Überflüssigkeit der KSZE dienen. Diese Kritik ist geschichtslos, kurzsichtig und vor allem alternativlos. Auf dem ersten Gipfel nach der europäischen „Zeitenwende“ verabschiedeten die Regierungschefs der damals noch 35 KSZE-Staaten im November 1990 in Paris die „Charta für ein neues Europa“. Es wurde vereinbart, die KSZE als Rahmen für die gemeinsame Lösung aller Probleme in Europa zu nutzen. In einer Rede vor dem Deutschen Bundestag bezeichnete Bundeskanzler Kohl die KSZE wenig später als „Herzstück der europäischen Architektur“. Mag all dies für viele der westlichen Regierungschefs schon 1990 nur noch ein Lippenbekenntnis gewesen sein – in Prag, Warschau, Budapest und auch Moskau wurde die Pariser Vereinbarung ernst genommen. Die meisten Staaten Mittel- und Osteuropas verbanden mit der KSZE die Hoffnung auf eine kollektive Sicherheitsstruktur, die ihnen auch die Sorgen vor dem großen Nachbarn im Osten nehmen würde. Und Moskau sah in der KSZE die Plattform für gleichberechtigte Mitentscheidung über europäische Belange. Für Rußland hat(te) dies noch größere Bedeutung als für die ehemalige Weltmacht Sowjetunion.
Doch der Westen steckte nach 1990 fast alle verfügbaren politischen Energien, Phantasien und materiellen Ressourcen in den Erhalt und Ausbau von Nato, EU und WEU. Die KSZE fristet seitdem ein Mauerblümchendasein. Die Lösung der Konflikte in Jugoslawien, die nur wenige Monate nach dem Pariser Gipfel offen ausbrachen, beanspruchten die westlichen Institutionen EU, WEU und Nato für sich – oftmals in Konkurrenz zueinander und mit dem bekannten Ergebnis. Die KSZE, und damit wichtige osteuropäische Staaten mit potentiellen Einflußmöglichkeiten auf die serbische Konfliktseite, blieben außen vor. Aus Ex-Außenminister Genschers Konzept einer europäischen Friedens- und Sicherheitsstruktur verschiedener interlocking institutions (miteinander verzahnter Institutionen) wurde die Realität der interblocking institutions (der sich gegenseitig blockierenden Institutionen).
Seitdem vollziehen sich die Entwicklungen geradezu im Sinne einer self-fullfilling prophecy. Weil aus der KSZE nicht wurde, was sie sich erhofft hatten, suchten die kleineren osteuropäischen Staaten ihr Heil in der Nato. Das erregte zwangsläufig Mißtrauen in Rußland und stärkte die nationalistische Opposition gegen Jelzin. Der Versuch der Nato-Staaten, Moskau zu beruhigen, indem man den kleineren osteuropäischen Staaten eine Nato-Mitgliedschaft und die damit verbundenen Sicherheitsgarantien nur vage für die fernere Zukunft in Aussicht stellte und zunächst nur Vorhöfe wie den „Kooperationsrat“ oder das Programm „Partnerschaft für den Frieden“ anbot, ist gescheitert. Die keineswegs „überraschende“ Weigerung von Rußlands Außenminister Kosyrew, am letzten Donnerstag in der Brüsseler Nato-Zentrale das bilaterale Abkommen über das Partnerschaftsprogramm zu unterzeichnen, ist hierfür nur das bislang deutlichste Indiz. In Warschau, Prag oder Budapest wird nun die Enttäuschung über die Hinhaltetaktik der Nato zunehmen und denjenigen Kräften weiteren Auftrieb verschaffen, die auf eine Stärkung der nationalen Sicherheits- und Militärpolitik setzen. Dies würde zunehmende Ressourcenverschwendung für unproduktive Bereiche bedeuten sowie auf mittlere Sicht Spannungen und Konflikte auch zwischen den kleineren osteuropäischen Staaten.
Diese Entwicklung läßt sich – wenn überhaupt – nur noch umsteuern, wenn der Westen seine Politik des Europa der zwei oder gar drei Klassen endlich aufgibt und sich nicht nur in Sonntagsreden zum gesamteuropäischen Haus bekennen würde. Der Schlüssel liegt in einer positiven Antwort auf die Frage nach der Rolle Rußlands in Europa. Die derzeit gängige Nato-Formel, Moskau dürfe „kein Vetorecht“ in der westlichen Militärallianz erhalten, ist eine negative Antwort, die lediglich die Sicherung überkommener historischer Strukturen meint. Positiv wäre das Ja zu einer uneingeschränkten Teilnahme Rußlands an sämtlichen europäischen Belangen – und zwar mit allen Rechten und Pflichten. Der einzig vorstellbare Rahmen hierfür ist eine institutionell reformierte und politisch erheblich gestärkte KSZE mit einer eigenen Friedenstruppe, die die Nato schließlich überflüssig machen könnte. Nur unter diesen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen wäre auch eine konstruktive Einmischung in die „inneren“ Belange Rußlands beziehungsweise des derzeit von Moskau reklamierten „nahen Auslands“ möglich. Andreas Zumach
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