■ Hessens Umweltminister Joschka Fischer über Forscherdrang, staatliche Ohnmacht und Risiken der Industriegesellschaft: „Wir werfen weiter, als wir sehen können“
taz: Egon Schäfer, Vorstand der IG Chemie und Aufsichtsrat bei Hoechst hat gemeint, daß auch bei der Herstellung von Mettwurst Dioxin entsteht. Mit welchen Risiken müssen wir eigentlich in der Industriegesellschaft leben?
Joschka Fischer: Wir müssen mit all den großtechnischen Risiken leben, die wir uns zumuten. Dabei geht es zum einen um das Störfallrisiko. Das bleibt allerdings, selbst wenn es zur Katastrophe kommt, räumlich begrenzt. Wir muten uns aber auch ein fast schon historisches Risiko zu. Wenn wir beispielsweise den ganzen Chemikalienzoo der Chlorchemie, jahrzehntelang jedes Jahr Millionen von Tonnen, in die Biosphäre eintragen, hat das globale Konsequenzen: Das Ozonloch als Folge der FCKW ist nur ein Beispiel. Wir muten uns in der automobilen Gesellschaft auch das Risiko zu, beim Autofahren getötet oder verletzt zu werden...
Ich mute mir selbst zu, ins Auto zu steigen. Aber wenn Sie sagen, wir muten uns die Chemierisiken zu, wer ist denn wir? Nach der Zustimmung zu den Risiken der Chlorchemie wurde niemand gefragt.
Mit wir meine ich nicht nur böse Kapitalisten und Parteien, die von ihnen abhängen. Der Einzug der Chlorchemie ist auf breiter Ebene erfolgt, ohne daß es nennenswerte Widerstände dagegen gab. Das gleiche galt für den Einstieg in die Atomenergie. In Biblis waren wir Anfang der siebziger Jahre nicht einmal demonstrieren, obwohl es vor den Toren von Frankfurt lag.
Eingeführt haben wir die Chlorchemie und die AKW aber auch nicht. Also wer ist verantwortlich, die politischen Amtsträger?
Nein. Die Frage der Verantwortung läßt sich gut an einer Technologie diskutieren, die jetzt gerade eingeführt wird: die Gentechnik. Wir sind heute nicht mehr so gutgläubig wie in den 60er Jahren. Wir sind inzwischen mißtrauisch und wissen, wohin solche neuen Segnungen führen können. Sie führen nicht ins Paradies, sondern in den Supergau von Tschernobyl, unter Umständen sogar zum Umkippen wesentlicher Teile der Biosphäre. Die Wissenschaftler haben mit der Gentechnik die Baupläne des Lebens entschlüsselt und die Fähigkeit entwickelt, hier manipulativ einzugreifen. Gewinnerwartungen sind entstanden und neue Produkte in der Umsetzung. Der Homo sapiens stellt sich selbst zur Disposition — und das nach den Maßstäben der nächsten Bilanzpressekonferenz, nach dem Erwartungshorizont eines Wissenschaftlers, der den Nobelpreis will. Nach sehr kurzfristigen und sehr kurzsichtigen Maßstäben also. Günther Anders hat mal gesagt: Wir werfen weiter, als wir sehen können, das trifft genau zu.
Und was bedeutet das für die politische Steuerung des Industriesystems? Ulrich Preuß hat vor etwa 10 Jahren festgestellt, man könne solche Entscheidungen nicht einmal demokratisch treffen.
Die Entscheidungen werden ohnehin nicht demokratisch getroffen, weil Wissenschaft und Forschung keine Domäne der Demokratie sind.
Wer trifft die Entscheidung?
Die erste Entscheidung wird innerhalb der Autonomie von Wissenschaft getroffen, erst mal durch einen ganz menschlichen Drang. Ich will wissen, wie etwas funktioniert. Und wenn ich das entdeckt habe, erziele ich zudem einen Prestigegewinn, vielleicht gewinne ich sogar den Nobelpreis.
Und das Gewinninteresse?
Der zweite Antrieb ist die Erkenntnis, daß heute Wissenschaft und Forschung die wichtigste Produktivkraft darstellen. Die Organisation solchen technischen Fortschrittes ist zwar sehr teuer, aber sie verheißt noch mehr Gewinn. Gewinn nicht nur im materiellen Sinne, sondern auch für den Status der Volkswirtschaft, für ihre materielle Konkurrenzfähigkeit.
Die Wissenschaft nimmt uns alle als Geisel.
Das ist ein Prozeß, der vor etwa 300 Jahren begann. Ich würde das aber nicht Geiselnahme nennen.
Aber der Prozeß ist doch nicht naturwüchsig.
Doch, er ist in einem sehr hohen Maße naturwüchsig. Oder man muß ganz fundamentalistisch die westliche Zivilisationsentwicklung als ganze in Frage stellen.
Welche Chancen zur Steuerung hat der Landesminister?
Den Landesminister lassen wir mal weg. Bei der Ebene, die wir diskutieren, können wir den Landesminister getrost vergessen. Ich gebe offen zu, auf diese auch für mich zentrale Frage keine Antwort zu wissen: Wie können wir die Naivität der Wissenschaft und Forschung, die in einer Zeit gerechtfertigt war, in der ihre Mittel begrenzt waren, überwinden. Sie muß überwunden werden, nur wie, das weiß ich nicht. Bei der Gentechnik stellt sich der Mensch selbst zur Disposition. Er müßte die Perspektive eines Gottes haben, um die Folgen zu überblicken — die hat er nicht. Er hat aber plötzlich die Instrumentarien eines Gottes — die Möglichkeit, den Evolutionsprozeß jetzt selbst zu gestalten. Das ist eine neue qualitative Schwelle, da kommt die Wissenschaft an einen Punkt, an dem man nicht mehr sagen kann, o.k., das entscheidet ihr jetzt.
Die praktischen Beispiele aus anderen Großtechnologien sind nicht ermutigend. Schon vor fünf Jahren ist die Debatte um eine Chemiewende hochgekocht: Ausstieg aus der Chlorchemie war schon damals das Stichwort. Dann hat man auch von den Grünen zu dieser Frage nichts mehr gehört. Hat die Politik gepennt?
Nein. Es ist aber immer so, wenn du lange genug gegen eine Wand läufst, erlahmen die Kräfte. Nicht nur bei der Chemie. Es hat auch in der Atompolitik solche Durchhängerphasen gegeben.
Wie organisiert man denn nun die Konversion der Chlorchemie?
Der archimedische Punkt wird die Durchsetzung ökologisch orientierter ökonomischer Rahmenbedingungen sein. Wir müssen das ökonomische Verhalten in den Dienst des ökologischen Umbaus stellen. Für eine mögliche rot- grüne Koalition auf Bundesebene muß daher das Projekt einer langfristig angelegten ökologischen Steuerreform Priorität haben.
Reichlich abstrakt. Läuft das dann wie in der Müllpolitik gegenüber den Chemiekonzernen? Die Auflagen und Abgaben sind bislang so, daß die Unternehmen sie aus der Portokasse bezahlen.
Nein. Ich stelle mir diese ökologische Steuerreform so vor, daß wir zwar lange Fristen von fünf bis sieben Jahren für die Umstellung einräumen. Danach steigen die Abgaben aber exponentiell: Für Rohstoffverbrauch und Abfall, Wasser und Energieverbrauch. Bestimmte Produktionen werden sich dann nicht mehr rechnen.
Bisher zielt Ihre Politik darauf ab, mit Sicherheitsauflagen der Schließung problematischer Produktionen näherzukommen.
Die Steuerreform kann ich als Landesminister schlecht machen.
Aber bestimmte Produktionen würden sich nach strikten Sicherheitsauflagen nicht mehr rechnen.
Beim Beispiel PVC glaube ich nicht, daß man den Ausstieg allein über schärfere Vorschriften bei der Anlagensicherheit erreichen kann. Wir haben auch deshalb ein PVC- Verbot in der Verpackungsverordnung gefordert.
Das Fehlen von politischen Instrumenten nach den Unfällen bei Hoechst geht doch auch auf die fehlende Chemiepolitik in den vergangenen fünf Jahren zurück.
Warum interessiert das Thema gerade jetzt? Solche Fragen gehen doch an den Fragesteller aus der Presse zurück. Wir haben 1991/92 unseren alten Ansatz wieder aufgenommen und die Baseler Prognos AG mit einer Studie zur Konversion der Chlorchemie beauftragt. Die Vorstudie ist gerade fertig, hat aber nichts mit den Hoechst-Unfällen zu tun.
Die Chemieindustrie ist wohl auch ein schwieriger Gegner.
Es liegt nicht so sehr an der Schwierigkeit des Gegners als an der Schwierigkeit des Gegenstandes. Ich will die Macht der Industrie nicht unterschätzen. Natürlich sind unsere Möglichkeiten, energisch durchzugreifen, jetzt ganz andere als vor der Störfallserie. Vor allem aber das Produkt ist anders: Die Atomindustrie ist mehr oder weniger standortgebunden. Sie kann nicht sagen, wir machen hier dicht und kaufen den Strom künftig in Afrika, Südkorea oder sonst wo. Pharmazeutische Produkte und Farben kann man aber mit den entsprechenden Genehmigungen überall auf der Welt herstellen.
Aber genau wie die Einfuhr japanischer Autos nach Italien verhindert wird, kann man doch auch diese Chemikalien aussperren.
Das ginge gegen den freien Welthandel. Ich kann nur davor warnen, die wirtschaftlichen Interessen dieses Landes falsch einzuschätzen. Was ich befürchte ist eine Teilung der Chemieindustrie: Die schmutzigen Teile wandern in die Dritte Welt ab, die Feinchemikalien, die Pharmazie und die „Sanfte Chemie“ bleiben hier. Die ökonomische Entwicklung geht ohnehin dorthin, aber als Ökologe und aus sozialen Gründen kann ich eine solche Entwicklung nicht für wünschenswert erklären.
Während der ersten rot-grünen Koalition mit Herrn Börner haben die Grünen auf die Waffengleichheit von Kontrolleuren und Chemieindustrie gesetzt, wo bleiben die Kontrolleure, die die Chemieindustrie unter die Lupe nehmen?
Es ging damals nicht um Waffengleichheit in der Chemieproduktion, es ging um die Kontrolle der Sonderabfälle, dieses Geschäft ist inzwischen zunehmend in privater Hand. Die Waffengleichheit in der Forschung wäre schwer zu erreichen: Es gibt ein ziemlich geschlossenes System bestimmter Hochschulzweige und der Chemiekonzere. Zu glauben, daß man ein solches Know-how-Monopol so ohne weiteres von staatlichen Stellen durchbrechen könnte, halte ich für nicht realistisch.
Es wird aber nicht einmal der Versuch gemacht. In den 70er Jahren hat der Staat unglaubliche Anstrengungen unternommen, um 15 Desperados durch die Republik zu jagen. Bei der Jagd auf die Chemiesünder ist von solchen Anstrengungen nichts zu sehen.
Wäre das denn wünschenswert. Es geht doch nicht allein um die Vergrößerung des Apparates. Das wunderbar vermehrte BKA war nicht sonderlich effizient. Viel wichtiger als Masse finde ich eine Modernisierung der Verwaltung.
Aber ohne mehr staatliches Know-how kann man doch die Anlagen gar nicht überprüfen.
Das sehe ich noch nicht so. Es geht bei der Sicherheitsüberprüfung vor allem um die Definition: Was ist Stand der Technik. Es fehlen dann regelmäßige Überprüfungen und Vergleiche der laufenden Anlagen mit diesem Stand der Technik. Wir wollen in Hessen die Gewerbeaufsichtsämter perspektivisch zu Umweltämtern umbauen. Der Koalitionspartner sieht das aber noch nicht so. Ich hätte gern eine schlanke, gut bezahlte, gut organisierte Umweltverwaltung. Messen können dann andere. Wenn regelmäßige Kontrollen Pflicht werden, entsteht für die Betreiber ein ganz anderer Druck, und für die TÜVs eine Perspektive, mit der sie auch auf die Suche nach Personal gehen können, ein richtiger Umweltdienstleistungssektor.
Gibt es einen Konsens mit der SPD, die Chemieindustrie so an die Kandare zu nehmen?
Es geht gar nicht darum, die Chemieindustrie an die Kandare zu nehmen. Es geht darum, daß nur sichere Arbeitsplätze von der Bevölkerung akzeptiert werden. Das betrifft nicht nur Grün-Wähler. Das habe ich den Herren der Hoechst AG auch gesagt. Das heißt, die Chemieindustrie selbst muß ein eminentes Interesse daran haben, daß ihre Arbeitsplätze technisch sicher und umweltsicher sind, damit sie von der Bevölkerung akzeptiert werden.
Heißt das, Joschka Fischer bleibt als Landespolitiker darauf angewiesen, daß die Bevölkerung sagt, dieses Risiko sind wir nicht mehr bereit zu akzeptieren.
Da sage ich ja und nein. Wir haben bestimmte schlimme Erfahrungen gemacht, und das wird politische Konsequenzen haben. Hessen wird das einzige Bundesland sein, daß einen Generalcheck der Chemieindustrie macht, und das wird Konsequenzen in Form von Auflagen an die Betriebe haben, das gab es noch nie. Es ist sicher eine wichtige Frage zu untersuchen, welche Risiken haben die Behörden bei Hoechst nicht gesehen, aber es ist noch wichtiger zu fragen, welche Risiken sehen wir denn heute nicht. Nehmen wir nur das Beispiel Plutoniumflüge. Herr Töpfer findet Plutoniumflüge vom Frankfurter Flughafen normal. Da kommt gegenwärtig in der Bevölkerung kein breiter Aufschrei. Nur der hessische Umweltminister und der Frankfurter Oberbürgermeister schreiben Briefe. Aber wehe es kommt ein solcher Flieger herunter, dann würde sich jeder an den Kopf greifen und sagen, das darf doch nicht wahr sein, welche Unvernunft regierte da.
Die Menschen wissen nicht, wann der Plutoniumflieger abgeht, das wird geheimgehalten. Das ist anders, als wenn ich nachts das Fenster aufmache, und es stinkt von der Chemiefabrik gegenüber.
Stimmt nicht ganz. Schauen Sie sich an, wie die Menschen mit dem Atomrisiko in Hanau umgehen. Es hat kaum jemanden interessiert, Siemens hängt mir einen Schadensersatzprozeß an den Hals. Die Siemens-Leute wissen, daß ihre Altanlage zur Produktion plutoniumhaltiger Brennstäbe nicht gegen schweres Störfallversagen ausgelegt ist. Ein Brand in der MOX- Altanlage in Hanau mit dem dort lagernden Plutoniumpulver wäre der regionale Weltuntergang, diese Region wäre auf Menschengedenken nicht mehr bewohnbar. Das wissen auch alle, die von der Sache etwas verstehen. Es scheint aber trotzdem niemanden groß zu interessieren, solange es nicht passiert. Die Atomrisiken können wir wenigstens benennen und — ich behaupte — durch Abschalten relativ einfach lösen. Viele andere Risiken, zum Beispiel die Transportrisiken in der Chemieindustrie können wir nicht endgültig ausschließen, die können wir nur reduzieren. Als verantwortlicher Politiker muß ich sagen, den allmächtigen Staat gibt es an dieser Stelle nicht. Der wäre im übrigen auch gar nicht erstrebenswert. Interview: Klaus Peter Klingelschmitt/Hermann-Josef Tenhagen
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