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Archiv-Artikel

Herr Gawlik zahlt nicht mehr

Die Dorfschule: kein Brandschutz. Die Turnhalle: undicht. Die Straßen: kaputt„Wer die Gemeinden im Stich lässt, gefährdet die Wurzeln der Demokratie!“

aus Fürstenstein HEIDE PLATEN

Treppauf, treppab, der Bürgermeister kugelt und kariolt durch die Gemeinde. Affenzahn in Fürstenstein, drei Ortsteile im 3.460-Einwohner-Dorf 23 Kilometer nordwestlich von Passau im Schnelldurchgang. Und alles ist marode. Als Stephan Gawlik, 34 Jahre alt, ledig, im Mai 2002 ins Rathaus eingezogen ist, war die Gemeindekasse längst leer. Im Januar 2003 ist dem CSU-Mann, sagt er, „der Kragen geplatzt“. Mit deutlicher Handschrift, unterstrichen und mit einem großen Ausrufungszeichen versehen, schrieb er auf den Bescheid über 151.988 Euro Solidarumlage: „Widerspruch einlegen!“ Gar nichts mehr, verkündete er, wolle die Gemeinde zahlen, nicht an den Kreis, nicht an das Land und nicht an den Bund, ganz egal, bei welcher Partei man damit anecke.

Fürstenstein hat 3.670.000 Euro Schulden, pro Einwohner 1.061 Euro, und musste im Januar einen Kredit aufnehmen. Er werde gegen alle Zahlungsverpflichtungen klagen. Gawlik trat damit ein Medienecho los, dem eine Sympathiewelle folgte. Bundesweit nehmen die Amtskollegen die geballte Faust aus der Tasche, senden Gruß-, Dank- und Unterstützungsadressen in die Randlage des Bayerischen Waldes.

Stephan Gawlik bietet ein volles Programm, zuerst die Dorfschule in Nammering: kein Brandschutz, die sanitären Anlagen veraltet, Treppengeländer unsicher. Dann die Turnhalle: Lecks im Dach, der Holzboden verrottet, feucht, muffig und bröselig. Auf dem Vorplatz bildet sich ein Krater im Natursteinpflaster, Stephan Gawlik tritt gegen die Randsteine der Treppe, die wackeln auch. Steine gibt es genug in der Gemeinde, im Stadtwappen, an den Straßenrändern, auf den Berghängen. Lange hat die Region vom Bayerwaldgranit gelebt.

Der Steinbruch liegt in Winterruhe. Ob er im Frühjahr seinen Betrieb wieder aufnehmen wird, ist fraglich. Der Absatzmarkt für den grau glitzernden Stein ist schlecht. Der größte Arbeitgeber der Region, die Elektronikfirma Röderstein, hat längst geschlossen, Siemens in Passau entlässt, der Tourismus ist seit 1990 von 23.000 auf 2.500 Übernachtungen zurückgegangen. Die Arbeitslosigkeit liegt bei zehn Prozent. „Erfolgsland Bayern“ – da beschönige auch die CSU. „Wir sind wirklich“, wird Bürgermeister Gawlik zwischen den unverkäuflichen Granithalden bissig, „steinreich.“ Und lobt die schöne Landschaft, die Aussicht über Berge und Wiesen. Die ist immerhin umsonst.

Oben auf dem Schlossberg steht der größte Kostenfaktor. Das Schloss war Ritterburg, Fürstensitz, Nonnenkloster, Erziehungsanstalt, Knaben-, Internatsschule, Lazarett und zuletzt Heimvolksschule. Die Nonnen, der Orden der Englischen Fräulein, haben es im vergangenen Jahr verlassen. Noch gehört es der katholischen Kirche. Die würde das Wahrzeichen der Gemeinde gerne für einen symbolischen Euro verkaufen. Den hätte Gawlik noch, er würde ihn ebenso aus der eigenen Tasche hinlegen wie das Geld für die Wandfarbe in der Schule, aber an die Millionen für die Renovierung und den Unterhalt ist nicht einmal im Traum zu denken. Der Parcours geht über den gepflasterten Schlosshof durch die einstigen Rittersäle, verwinkelte Kammern, über steile Treppen in das ehemalige Gastzimmer des Bischofs. Die leere Burg verfällt, Schimmel, Stockflecken, bröckelnder Putz. Die Anwesenheit der Kinder, die Geschichte der Burg sind für Gawlik noch fühlbar: „Traurig ist das, diese Leere hier.“

Gawlik klettert durch ein brüchiges Fenster auf das grüne Kupferdach, Panoramablick aufs Dreiburgenland gratis, links hinten die Salden-, vorne rechts die Englburg. Gawlik macht Halt in der Kirche und verrät ein bisschen von dem, was ihn, konservativ und unkonventionell zugleich, geprägt hat: ein aufmüpfiger, fortschrittlicher Priester, der die moderne Christusskulptur über dem Altar gegen den konservativen Widerstand durchsetzte. Den hat er schon als Kind bewundert. Der kupferne Gekreuzigte symbolisiert nicht die Leiden Christi, sondern breitet die Arme weit aus, als wolle er segnen und sagen: „Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid.“ Da ist Gawlik andächtig und ganz bei sich. Bis sein Handy klingelt. Er telefoniert im Angesicht des Herrn ganz leise. Beim Verlassen des Gotteshauses beugt er die Knie, bekreuzigt sich, als wolle er um Vergebung für die Blasphemie bitten.

Er eilt in die Grundschule an der Dreiburgenstraße in der Ortsmitte. Da ist die Heizung hin, das Dach undicht. Der Regen tropft durch die feuchten Balken, unter den Löchern stehen eine Plastikwanne, ein roter Kochtopf und ein weißgelbes Salatschüsselchen. Gawlik prüft den Wasserstand: „Noch halb voll von gestern.“ Das klingt fast schon triumphierend: „Die wirklich kaputten Straßen habe ich Ihnen noch gar nicht gezeigt.“ Den veralteten Skilift, bei dem Sessel fehlen, auch nicht. Man glaubt ihm auch so.

Vor dem Rathaus quietscht ein schiefer Mast im Wind, oben flattert die Fahne des Deutschen Städte- und Gemeindebundes: „Rettet die Kommunen!“ Revoluzzer, Robin Hood von Fürstenstein ist er genannt worden. Für das Lokalfernsehen hat er mit Pfeil und Bogen posiert, bis ihm die Arme weh taten. Bayerischer Asterix, David gegen Goliath? Ach was, sagt Gawlik, eigentlich sei er gar nicht der Typ für solche Spektakel. Eigentlich ist der stämmige, temperamentvolle Mann mit dem kurzen braunen Haar und den kindlichen Blauaugen einer, der es lieber gemütlich hätte. Jeder kennt ihn, an jeder Ecke wird er gegrüßt und ist nicht der „Herr Bürgermeister“, sondern einfach „der Stephan“, den sie alle schon „als a ganz kloanen Bub“ gekannt haben.

Er ist in Fürstenstein aufgewachsen und hat eine Lehre als Verwaltungsfachangestellter absolviert. Radeln, joggen, schwimmen, lesen, die Briefmarkensammlung pflegen, das alles würde ihm mehr liegen. Und Zahlen, Daten und Fakten. Die hat er im Kopf, dreht und wendet sie und kommt zum immer gleichen Schluss: „So kann es nicht weitergehen!“

Politiker wollte er eigentlich nie werden, kandidierte dann aber 1990 auf einem hinteren Listenplatz für den Gemeinderat und rückte 1993 nach. Die Rolle als bundesweit parteiübergreifende Integrationsfigur gebeutelter Bürgermeister hat er nicht geübt. Er schleppt Ordner an, staunt über die vielen Briefe, liest ganze Passagen vor. Im Gemeinderat hat ihm auch die kleine Opposition der Freien Wähler und der SPD „aus ganzem Herzen“ zugestimmt, dann bekam er die überwältigende Mehrheit der 36 von 37 Bürgermeistern des Landkreises Passau, die ihn mit der „Kellberger Erklärung“ unterstützen. Andere Gemeinden haben sich bundesweit angeschlossen. CSU hin oder her, sagt er, er sei zuallererst seiner Gemeinde verpflichtet „und nicht der großen Politik“. Da lässt er an keiner Partei ein gutes Haar: „Schuld haben’s alle miteinander.“

850.742,55 Euro Kreisumlage sollte Fürstenstein zahlen. Die so genannten Schlüsselzuweisungen für Gemeinschaftsaufgaben, die die Kommunen von Kreis und Land erhalten, sind dagegen jedes Jahr weiter gesunken, ebenso wie die Gewerbesteuereinnahmen. „Der Gipfel“ sei es, dass bayerische Gemeinden, die selber überschwemmt worden sind, auch noch die Flutopferabgabe bezahlen sollen.

Was Stephan Gawlik so überzeugend macht, das sind der Zorn, die Empörung, die in seiner Stimme mitschwingen. Er habe, sagt er, „einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn“: „Wenn etwas zum Himmel schreit, dann muss ich mich wehren.“ Seine Aktion richte sich nicht, betont er immer wieder, gegen die Ostdeutschen, sondern „gegen den Abgabenwahnsinn“. Die Solidarumlage sei nur der Auslöser gewesen. Dass die Bild in Leipzig titelte: „Herr Bürgermeister, was haben Sie gegen Ossis?“, das hat ihn geärgert. Darüber hat er sich auch mit dem Rathauschef seiner Partnerstadt Geising in Sachsen schnell verständigt. Auch der steht auf seiner Seite. Eigentlich, sagt Gawlik, sei es das Prinzip der Solidarität, dass Starke die Schwachen unterstützen. Seine Gemeinde aber könne nicht anderen helfen, sie brauche selbst Hilfe. Der Widerspruch gegen die Zahlungsbescheide, eingereicht beim zuständigen Bayerischen Statistischen Landesamt und beim Zentralfinanzamt in München, sagen Juristen, werde wohl zurückgewiesen werden. Erst dann kann Fürstenstein gegen den Freistaat und den Bund klagen. Das kann dauern.

Gawlik sieht die Kommunen abwechselnd als Opferlämmer auf der Schlachtbank, infarktgefährdete Herzen der Demokratie, als Melkkühe der Nation, ausgepresste Zitronen, sinkende Schiffe: „Wer die Gemeinden im Stich lässt, gefährdet die Wurzeln der Demokratie!“ Solche Sprüche überlegt er sich nicht abends im Bett, die fallen ihm den ganzen Tag über ein. Und dann teilt der CSU-Mann eben aus. Acht Großkonzerne, alle an der Börse notiert, seien in München ansässig: „Und keiner zahlt auch nur einen Cent Steuern!“ Wenn auch die Großstadt München in den Topf der Schlüsselzuweisungen für die Kommunen greifen müsse, dann sei das der endgültige Untergang der kleineren Orte: „Wir werden geschröpft bis zum Umfallen. Wir können nichts mehr verlieren, sondern nur noch gewinnen.“ Was zu viel ist, ist eben zu viel, auch für die Niederbayern, die eigentlich „unter ihrer rauen Schale ein gutmütiger, arbeitsamer Menschenschlag seien“.

Gawlik hat an Verkehrsminister Manfred Stolpe geschrieben und angefragt, wo die halbe Million Euro Solidarumlage geblieben sei, die Fürstenstein seit 1995 gezahlt habe. Der hat am 5. März antworten lassen und den schwarzen Peter an Ministerpräsident Stoiber weitergereicht. Er könne nicht sagen, wo das Geld geblieben sei, denn das sei Bestandteil „des kommunalen Finanzausgleichs im Freistaat Bayern. Es handelt sich dabei um reines Landesrecht.“ Anlage: Jahresbericht 2002 der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit.