: Heraus aus dem Hinterzimmer
■ Verfassungsrichter-Wahl muß reformiert werden
Gerichte sind keine Rechtsautomaten, die bei richtiger Rechtsanwendung das jeweils „richtige“ Urteil produzieren. Herkunft, Sozialisation und politische Präferenzen der Richter führen zu unterschiedlicher „Rechtsfindung“. Es war deshalb ein realistischer Schritt, als sich das Bundesverfassungsgericht vor einer Reihe von Jahren entschloß, dem amerikanischen Vorbild folgend Mehrheits- und Minderheitsvoten zu veröffentlichen.
Mit einer Stimme Mehrheit verwarf das Oberste Gericht der USA in den dreißiger Jahren zunächst alle Sozialgesetze Roosevelts, bis einer der Richter kippte und es plötzlich statt 5:4 4:5 hieß. Das hat dem Ansehen der Justiz keineswegs geschadet. Wenn jetzt der CDU-Rechtspolitiker Eylmann unter dem Eindruck des „Kruzifix-Urteils“ ein 6:2 Stimmenverhältnis für jedes Urteil fordert, beweist er nur, wie sehr er dem Mythos vom einheitlichen Entscheidungskörper Gericht nachtrauert. In den USA hat sich, ausgehend von den publizierten Voten, eine richtiggehende Entscheidungsprognostik für den Obersten Gerichtshof entwickelt. Und das Schöne bei ihr ist, daß man sich auf sie nicht verlassen kann. Denn einem konservativen Richter kann es in den Sinn kommen, das Verbrennen amerikanischer Flaggen für eine verfassungsgemäße Form der Meinungsäußerung zu halten.
In den USA muß der Senat dem vom Präsidenten für das Oberste Gericht vorgeschlagenen Juristen sein Plazet geben. Das Hearing, dem sich die Kandidaten unterziehen müssen, läuft unter engagierter bis lärmender Teilnahme der Öffentlichkeit ab. Auch diese Prozedur war der Würde des Gerichts nicht abträglich. Dieses Verdikt trifft eher auf das bisherige Auswahlverfahren im deutschen parlamentarischen Richter-Wahlausschuß zu, dessen equilibristische Kunststücke tatsächlich nur im Geheimen blühen können – der Öffentlichkeit wären sie nicht „vermittelbar“. Daß bei diesem Austarieren der Großpartei-Interessen in der Regel akzeptable Verfassungsrichter herauskommen, ist ein Argument der Effektivität, aber keines der Demokratie.
Hoffen wir, daß die Konservativen sich in ihrer delirierenden Wut über das jüngste Urteil des Verfassungsgerichts selbst ein Bein stellen und, quasi aus Versehen, für eine demokratische Reform des Wahlmodus eintreten, wie sie seit langem von liberalen Juristen vorgeschlagen wird: öffentliche Anhörung der Kandidaten und Wahl durch das Plenum des Bundestages. Christian Semler
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