piwik no script img

Henry Maske grüßt Lazarus

Mit wenig spektakulärem, aber effizientem Spiel beweist Andre Agassi bei der ATP-WM, dass er momentan die heißeste Nummer im Tenniszirkus ist  ■   Aus Hannover Matti Lieske

Gegen Andre Agassi anzutreten ist derzeit für keinen Tennisspieler der Welt ein besonderes Vergnügen. Im Feld der acht besten Tenniscracks des Jahres 1999, die sich in Hannover zur ATP-WM versammelt haben, wirkt der 29-jährige Weltranglistenerste wie Zinedine Zidane auf dem Bolzplatz eines beliebigen Dorfes. Wenn er nicht gerade die Nacht durchgesumpft hat, erreicht sein Spiel eine selten gesehene Perfektion, und die ersten beiden Matches bei der WM gewann Agassi nicht nur souverän, sondern ließ seine Gegner aussehen wie Qualifikanten bei einem Challenger-Turnier. Der Kontrahent, der am Mittwoch mit 2:6, 2:6 unterging, hieß immerhin Pete Sampras.

Seit seinem Tief vor zwei Jahren, das ihn bis auf Rang 142 der Weltrangliste rutschen ließ, hat Agassi seinem Spiel neue Dimensionen erschlossen. Wenn er aufzählt, was ihn von jenem Agassi unterscheidet, der 1990 ATP-Weltmeister wurde, so dauert das eine Weile. „Ich bin kräftiger“, legt er los, „ich bin schneller. Ich schlage besser auf, ich schlage härter. Ich spiele bessere Volleys, gehe mehr ans Netz. Meine Returns sind besser. Nun ja, alles ist besser.“ Außerdem, fügt er hinzu, „weiß ich inzwischen genau, warum ich das tue, was ich tue.“ Und vor allem weiß er, was er tut.

Die Jahre mit seinem Trainer Brad Gilbert, der mal ein Buch darüber schrieb, wie man die Schwächen eines Gegners gnadenlos ausnutzen kann, tragen Früchte, kein anderer Spieler ist taktisch so gewieft wie Agassi. Zum Beispiel Nicolas Lapentti beim WM-Auftakt. Vor kurzem hatte er gegen den Ecuadorianer in Paris noch einen Satz abgegeben, „jetzt weiß ich, wie ich gegen ihn zu spielen habe“. Lapentti sei ein Spieler, „gegen den man auf einer feinen Linie wandeln muss: den Ballwechsel kontrollieren, aber nicht zu aggressiv sein, denn er ist sehr gut, wenn jemand einfach Druck macht“. Gesagt, getan, beim 1:6, 2:6 blieben Lapenttis Stärken derart im Verborgenen, dass sich mancher fragte, wie er es in dieses Feld geschafft hatte.

Zum Beispiel Pete Sampras. „Mein Spiel ist eher methodisch, seines explosiv“, erläutert Agassi, „wenn der Ball sechs oder acht Mal übers Netz geht, fühlt er sich nicht so wohl.“ Während Sampras bei seinem Sieg gegen den Brasilianer Gustavo Kuerten noch mit großartigen Volleys geglänzt hatte, landeten seine Bälle beim 2:6, 2:6 gegen Agassi ständig im Netz oder im Aus. Ein schlechter Tag? Mitnichten. „Andre hat so gut gespielt wie schon lange nicht mehr“, lobte der 28-Jährige, „ich kam immer einen Schritt zu spät.“ Was nach leichten Fehlern aussah, waren eigentlich perfekt herausgespielte Punkte von Agassi, der den Ball immer genau dahin platzierte, wo Sampras am wenigsten damit anfangen konnte. Für das Publikum bietet eine Strategie, die nicht auf spektakulären Schlägen, sondern auf Fehlerlosigkeit und totaler Kontrolle basiert, nicht gerade das packendste Schauspiel. Eher handelt es sich um die Henry-Maske-Variante des Tennis, effizient, von hoher Qualität, aber ohne Glamour. Eine nüchterne Vivisektion des gegnerischen Spiels, die Momente des atemlosen Staunens nur selten zulässt, sondern eher Mitleid mit dem Opfer hervorruft.

Der zweite Satz war fast eine Reminiszenz an die erste ATP-WM in Hannover vor drei Jahren. Damals ging ein magenkranker Agassi gegen Sampras ähnlich sang- und klanglos ein, wie es am Mittwoch umgekehrt der Fall war. Der malade Las Veganer war vom Publikum gnadenlos ausgepfiffen worden und danach schnurstracks abgereist. Auch im vergangenen Jahr währte Agassis Herrlichkeit nur ein Match, bevor er verletzt aufgeben musste. Diesmal scheint es, als treffe Agassis Spruch, dass die Saison 1999 seine ganze Karriere umgedreht habe, sogar für Hannover zu. Das Publikum hat ihn, möglicherweise auch aus gräflichen Gründen, ins Herz geschlossen, und er lästert nicht mehr ganz so laut über das schlechte Wetter und darüber, dass man eine derartig wichtige Veranstaltung in ein solches Kaff vergeben habe.

Pfiffe gab es aber auch für Sampras nicht, zu deutlich war die Makellosigkeit des Agassi-Auftritts. Sicher ist, dass das Duell der beiden schlagstarken Amerikaner auch im nächsten Jahrtausend zu den heißesten Nummern des Tenniszirkus zählen wird. Einen Vorgeschmack könnte es schon am Sonntag im Finale geben. „Dieser Typ kann sich steigern wie niemand sonst“, weiß Agassi über Sampras. In Wimbledon etwa sei er „wie Lazarus“ gewesen. „Gerade, wenn du denkst, er ist nicht mehr derselbe Pete, spielt er plötzlich so gut wie nie zuvor.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen