■ Helmut Kohls Rede zum 20. Juli: Er weizsäckerte
Manchmal ist die Politik noch für Überraschungen gut. Helmut Kohls Rede zum 20. Juli war so eine Überraschung. Über weite Strecken klang sie, als ob die Redenschreiber von Richard von Weizsäcker ins Bundeskanzleramt gewechselt haben. Da wurde die Würde des einzelnen Menschen als absoluter Wert genannt, aller staatlichen Gewalt übergeordnet. Den Satz sollte man sich merken, wenn wieder einmal Asylbewerber in sichere Folterländer abgeschoben werden. Und auch einen anderen Satz sollte man sich für den Tagesgebrauch aufschreiben, nämlich, daß die entscheidend moralische Trennlinie in unserem Jahrhundert nicht zwischen rechts und links, sondern zwischen „Anstand und Ruchlosigkeit“ verlaufe. Helmut Kohl hat damit die Klippe umschifft, an der einen Tag zuvor Verteidigungsminister Volker Rühe bei seiner Ehrung der Männer des 20. Juli gescheitert ist. Der benutzte nämlich das gescheiterte Attentat, um einen klaren Schnitt zwischen historischer Darstellung und moralischer Bewertung zu ziehen. Die „Formen des Widerstandes“, meinte Rühe, müßten an den verfolgten Zielen und an unverzichtbaren Wertmaßstäben gemessen werden. Kommunisten also, die später eine zweite Diktatur errichtet hätten, meinte Rühe ausdrücklich, verdienten kein Gedenken.
Da äußerte sich der Bundeskanzler differenzierter, ganz staatsmännisch den Konsens zwischen Ost und West suchend. Der Widerstand bestimme sich durch die gemeinsame Gegnerschaft zum Nationalsozialismus, die unser aller Achtung verdiene. Schade, daß Kohl damit die Kommunisten zwar einschloß, sich aber nicht überwinden konnte, sie ausdrücklich zu benennen. Natürlich machte auch er einen Unterschied zwischen Widerständlern und Widerständlern, die zum politisch-moralischen Vorbild taugten. Aber dies ist ja legitim. Und Helmut Kohl sagte noch einen weiteren Satz, der sich angesichts der konservativen Versuche, den 20. Juli für das politische Tagesgeschäft zu instrumentalisieren, überraschend ausnimmt. Er wagte es nämlich zu sagen, daß die Männer des 20. Juli nicht alle von Geburt an Demokraten waren, sondern daß viele sich von der Diktatur hatten blenden lassen, daß sie lange verstrickt waren in Schuld und Unrecht.
Notorische KritikerInnen Kohls, die selbstverständlich davon ausgingen, daß Kohl eine Rede im Dienste der nationalen Beweihräucherung halten würde, müssen gestern leicht irritiert gewesen sein. Damit ihr Weltbild wieder ins Lot kommt, sei ihnen nur ein Besuch in der vorgestern von Verteidigungsminister Rühe eröffneten Ausstellung „Aufstand des Gewissens“ in Berlin empfohlen ... Anita Kugler
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen