■ Helmut Kohl und die Tschetschenien-Debatte: Ein verfassungswidriger Satz
„Ich bin Ihnen doch keine Rechenschaft schuldig“, erklärte der Bundeskanzler den ihn mit Fragen bedrängenden Parlamentariern. Jeder Schüler kennt das kleine Einmaleins der parlamentarischen Demokratie besser. Kohl hatte mal wieder einen Blackout. Einige Abgeordnete hatten ihn wegen seiner Kumpelfreundschaft mit Boris Jelzin der Kumpanei mit dessen Überfall auf Tschetschenien beschuldigt. Warum hatte es so lange gedauert, bis der Kanzler deutlichere Worte gegen die russischen Massaker fand? Was hatte er seinem Freund Jelzin am Telefon zugeflüstert? War der Überfall auf Tschetschenien jemals eine rein russische Angelegenheit gewesen? Der Kanzler wußte, daß er im Unrecht war, und darum polterte er los. Es ist immer dasselbe: Wenn Kohl einer Blamage zu entgehen versucht, stürzt er sich in die nächstgrößere.
Natürlich weiß auch der Kanzler, daß er der Verfassung zufolge dem Bundestag Rechenschaft schuldig ist. Es ist aber nicht nur die Aufregung, die Wut, die ihn das vergessen läßt. Auch seine Erfahrung hat mit dem Grundgesetz wenig zu tun. Sie hat ihn gelehrt: die Pinscher bellen, die Regierungs-Karawane zieht weiter. Wenn der Gegner einen gar zu sehr attackiert, dann zeigt man ihm, wer der Herr im Hause ist, und es herrscht wieder Ruhe. Auch diesmal sah es so aus. Die Agenturen brachten Kohls verfassungswidrigen Satz nicht. Die gestrigen überregionalen Zeitungen – außer der taz – hatten ihn auch überhört. Kein Kommentar beschäftigte sich mit der skandalösen Äußerung. Kohl schien wieder einmal mit seiner infantilen Mischung aus bockiger Aggression und demonstrativer Verletzlichkeit erfolgreich gewesen zu sein.
Wäre nicht das Fernsehen gewesen. Die Nachrichtensendungen von ZDF und ARD brachten vorgestern abend den Kohlschen Blackout an prominenter Stelle. Die Kollegen der schreibenden Zunft hatten sich nicht auf den Kanzler und das was er sagte und wie er es sagte konzentriert. Sie starrten auf ihre Notebooks und tippten ihre Zusammenfassungen. Die Redakteure in den Fernsehanstalten dagegen waren auf der Jagd nach den wichtigsten Sätzen, den erhellendsten Bildern.
Ein Kanzler, der am liebsten um sich schlagen würde, sich nur mit Mühe zurückhalten kann und dann plötzlich ausbricht – das ist ein exzellenter Take. Den zeigten sie dem Wahlvolk, und das war wieder einmal erschrocken über den ausdauerndsten Kanzler der deutschen Geschichte.
Wo die hochgelobte seriöse Presse versagt hatte, da klärte das vielgescholtene Medium Fernsehen auf. Nur wenige Sekunden. Aber man sah die Arroganz der Macht. Arno Widmann
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