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Helbichpassion

■ Bachs „Johannespassion“, dargeboten vom Bremer Domchor unter Wolfgang Helbich

Zu den Glücklichen des irdischen Seins zählen häufig jene, welche an eben den Orten zum rechten Zeitpunkt weilen, an denen die allmächtige Vorsehung gebieterisch die Umstände zu einer günstigen Konstellation fügt.

Das Erhabene und

sein Moment

Die Ingredienzen solch schicksalsschwangerer Momente sind schnell genannt. Zum erhabenen Augenblick gehört erstens ein erhabener Anlaß, etwa ein solcher, den man gemeiniglich „Ostern“ nennt.

Zweitens benötigt man ein gehöriges Stück Perückenmusik: besonders, wenn es auf der populärsten abendländischen Schwarte fußt: Bachs „Johannespassion“.

Drittens kann es nicht schaden, daß Freitag der 13. ist: ein kleiner Schuß Grauen auf dem Weg zur Schädelstätte Golgatha.

Das Leiden

und sein Kantor

Doch der Auftritt des bleichen Kantors, selbst von Leiden (eine dentale Unpäßlichkeit, wie man munkeln hörte) gebeutelt, krönt die Situation erst in ihrer ganzen Vollkommenheit. Aufführungspraxis läßt sich wohl kaum authentischer umsetzen, als da, wo die „Johannespassion“ einen ebenbürtigen Gefährten mitbringt: die „Helbichpassion“.

Kurz, die Aufführung stand unter einem günstigen Stern.

Die Solisten

und ihr Ensemble

Mit Mieke van der Sluis, Graham Pushee, Harry Geraerts, Gustav Hehring und Phillip Langshaw war ein Solistenquintett versammelt, das insgesamt miteinander stimmig wirkte und die grundlegenden aufführungspraktischen Voraussetzungen teilte.

Entscheidend vor allem, daß man durchgängig den Text - auch ohne Programm - verstehen konnte. Das galt auch für den Bremer Dom-Chor, ausgenommen in jenen Fällen, in denen die kompositorische Gestaltung dies verhindert.

Die Kritik

und ihr Thema

Ich spare mir das ganze Gewäsch, wer, wo, wann, wie oder warum in welchen Arien/Rezitativen/Chören kantabler/timbrierter/ausgewogener/blablabla gesungen hat: wichtiger sind einige kritische Anmerkungen zur Interpretation.

1. Das gut spielende Ensemble „Steintor Barock“ hatte abschnittweise keine Chancen gegen die Klangwucht des Chores (ca. 120 Personen) - der Eingangschor machte dies deutlich, während der Chorus „Ruht wohl“ beispielsweise im Verhältnis

Chor und Orchester wesentlich ausdifferenzierter war. Trotzdem scheint bei zunehmender Qualität der Aufführungen die Diskrepanz zwischen breitenwirksamer Chorarbeit und künstlerischem Anspruch immer unüberbrückbarer. Wolfgang Helbich wird über kurz oder lang nach Lösungen suchen müssen.

2. Die Herausarbeitung einzelner Begriffe innerhalb des Textes,

z.B. im Choral „Wer hat dich so geschlagen“, ist löblich, wirkt allerdings dann übertrieben, wenn die Dynamik unvermittelt als krasse Spitze emporschießt. Bach hat in der Regel dem Text kompositorisch bereits Rechnung getragen, und solche Affekte sind günstiger durch eine Verkürzung der vorhergehenden Zählzeit zu akzentuieren.

3. Ritardandi am Ende eines jeden

Chorals sind in ihrer Vorhersehbarkeit auf Dauer für den Hörer ermüdend. Ohne Puritaner zu sein, darf man behupten, daß „Zum Schluß kommen“ nicht unbedingt heißt, permanent zu verzögern. Auch hier muß sich die Gestaltung am Affekt des Textes orientieren. Mithin eine respektable Vorstellung, die Achtung abnötigt.

H. Schmidt.

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