: Heiße Ungarn-Diplomatie
■ Geburtstagsgeschenk für die DDR: Ungarn schließt die grüne Grenze zum 40. Jahrestag / DDR will Ausreisegesetze ändern / BRD-Besuch soll einfacher werden
Berlin (taz) - Um der Flüchtlingswelle Herr zu werden, soll die SED nach gut unterrichteten Parteikreisen die Absicht haben, das Reise- und Ausreisegesetz vom Januar dieses Jahres abzuändern. Künftig sollen auch DDR-BürgerInnen ohne Verwandte in der BRD einen Anspruch auf West-Reisen erhalten. Gleichzeitig war gestern zu erfahren, daß die DDR ihre auf dem KSZE-Forum in Wien eingegangenen Verpflichtungen bis Ende des Jahres zu geltendem DDR-Recht machen will. Darunter fiele auch die Beseitigung bzw. Herabsetzung des Mindestumtausches.
Die ungarische Regierung will die grüne Grenze bis zum 40. Geburtstag der DDR (!) für DDR-Flüchtlinge offen halten. Das verlautete aus westlichen Diplomatenkreisen in Berlin/DDR. Danach sollen die suspendierten Bestimmungen des Vertrags von 1969 zwischen der DDR und Ungarn wieder in Kraft gesetzt werden. Die Öffnung der Grenzen für DDR-Flüchtlinge hatte zu hektischen diplomatischen Aktivitäten innerhalb des Warschauer Paktes geführt. In Moskau fand zum Wochenanfang eine Dringlichkeitssitzung der stellvertretenden Außenminister statt. Thema: „Informationen und Meinungen zu einigen dringenden internationalen Fragen“. 'Tass‘ meldete nichts über den Inhalt der Gespräche, Gerassimow, Sprecher des sowjetischen Außenministeriums, bestritt sogar ausdrücklich, daß „Unstimmigkeiten zwischen der DDR und Ungarn zu den angesprochenen Konflikten“ gehört hätten. Wohlinformierte und andere Watcher sehen es anders.
Die DDR-Regierung hat inzwischen den Wortlaut ihrer an Budapest übergebenen Protestnote verbreitet. Wie zu erwarten, äußert sie Befremden über die zeitweilige Suspendierung von Teilen des Abkommens und des Protokolls zum Reiseverkehr DDR-Ungarn von 1969. Die Ungarn werden belehrt, „es gilt der Grundsatz des Völkerrechts, daß geschlossene Verträge einzuhalten und nach Treu und Glauben zu erfüllen sind“. Auf das Argument, daß die Bestimmungen des Protokolls über gültige Reisedokumente durch die von beiden Ländern ratifizierten Menschenrechtspakte überholt sind, wird nicht eingegangen. Die DDR-Regierung macht geltend, sie habe die Ungarn über die Vereinbarung zwischen der DDR und der BRD informiert, auf Grund derer die Botschaftsbesetzer in Berlin/DDR die Ständige Vertretung verlassen hätten. Sie klagt die Ungarn an, nicht nach dieser Vereinbarung vorgegangen zu sein. Die westdeutsche Regierung hat bis jetzt allerdings die Existenz einer solchen Vereinbarung bestritten. Mittlerweile hat die ungarische Regierung die Note der DDR formell zurückgewiesen und eine Antwortnote angekündigt. Um den ungarischen Standpunkt verständlich zu machen, sind am Mittwoch zwei hochrangige ungarische Parteifunktionäre, die Politbüromitglieder Barabas und Ormos, nach Moskau bzw. nach Berlin/DDR gefahren. Beide Funktionäre gehören nicht dem inneren Kreis der Reformer an, gelten aber als Befürworter des Reformkurses. Die DDR-Presse greift die westdeutsche und die „verleitete“ ungarische Regierung weiter an. Verbündete wurden mobilisiert. Die tschechoslowakische Nachrichtenagentur 'ctk‘ attackierte „die Kampagne der Massenmedien und bestimmter politischer Kreise der BRD, um die Fortsetzung auf Seite 2
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illegale Ausreise von DDR-Bürgern ins Ausland zu erzwingen“. Ein größeres Kaliber hat die gemeinsame Erklärung von Krolikowski und Ligatschow, beide ZK-Sekretäre ihrer Parteien, der SED und der KPDSU: Sie verurteilten „die völkerrechtswidrigen machenschaften bestimmter Kreise der BRD durch ein ganzes System von Verleumdung, Verlockung und Abwerbung, DDR-Bürger zum gesetzwidrigen Verlassen ihres Staates zu manipulieren“. Ligatschow und Krolikowski bekräftigten die Souveränität und Unantastbarkeit der DDR, die Notwendigkeit, die DDR-Staatsbürgerschaft zu respektieren und die Unverletztlichkeit der Grenzen der DDR. Ligatschow hat damit nur die politi
sche Position der Sowjetunion wiederholt, dennoch muß sein Besuch bei der SED auch im Rahmen der vehementen Polemik gesehen werden, die er am Wochenende in der 'Prawda‘ gegen die entschiedenen Reformer gerichtet hat. Wie die Führung der SED beklagt Ligatschow, daß es Kräfte gebe, die versuchen „die Grundlagen des Sozialismus aufzuweichen, Privateigentum einzuführen, Marktelemente zu entwickeln, Parteienpluralismus herzustellen und die Stabilität zu zerstören“. Ligatschows Besuch ist offiziell dem Erfahrungsaustausch bei der Landwirtschaft und den „Bündnissen“ gewidmet.
Christian Semler
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