: Heiliger Georg lacht und wächst
Das 26. Moskauer Internationale Filmfestival feiert dieses Jahr sein 45. Jubiläum. Jetzt will es an Cannes, Berlin und Venedig Anschluss finden. Schließlich ist die Russische Föderation absehbar einer der wichtigsten Filmmärkte der kommenden Jahre
VON BRIGITTE WERNEBURG
Wie Olga sich möglichst verführerisch auf das Bett drapiert, den Arm versuchsweise mal da oder dort hinlegt und ein Bein ganz lässig über das andere gleiten lässt, entzückte das Publikum im Puschkinski-Kino. Vor allem das weibliche. Das verrieten die hohen Töne, die das Gekicher und Lachen dominierten. Als unschuldig Schlafende möchte Olga ihren Reisebegleiter dazu bringen, sich doch bitte endlich an sie ranzumachen. Verführerische Weiblichkeit ist ein Thema, das auf der Aufgabenliste der Moskauerin zweifellos ganz oben steht. Diese These drängt sich auf, beobachtet man, wie schick sie sich in der U-Bahn und auf der Straße zeigt, gar nicht zu reden vom Eröffnungsempfang der 26. Internationalen Filmfestspiele in Moskau, wo selbst der heilige Georg eine langbeinige, superschlanke und supergestylte Blondine an seiner Seite hatte.
Der heilige Georg ist der Schutzpatron der Stadt. Seit 1995 ist nach ihm auch der Preis benannt und gestaltet, den das Festival verleiht. In Gold für den besten Film und in Silber für die weiteren Preise wie beste Regie, beste Hauptdarsteller und den Spezialpreis der Jury präsentierten die grazilen Blondinen den Drachentöter auf die Bühne des 2.300 Sitzplätze umfassenden Puschkinski. Der heilige Georg mag vielleicht nur analog dem Berliner Bären und dem venezianischen Löwen zum Markenzeichen des Filmfestivals gekürt worden sein: Ein wenig merkwürdig mutet es dennoch an, dass ausgerechnet ein Hauptdarsteller jener Orthodoxie das Festival schmückt, die im heutigen Russland stets gegen die Freiheit der Kunst Stellung bezieht und sie eingeschränkt sehen möchte. Gegenwärtig etwa in dem Prozess gegen die Kuratoren der Ausstellung „Vorsicht, Religion“, denen das „Schüren von religiöser Feindschaft“ vorgeworfen wird. Immerhin, der Prozess ist um eine Woche vertagt, die Richterin fordert von der Staatsanwaltschaft eine genauer begründete Klageschrift. Das lässt hoffen. Die kritische und sicher auch blasphemische künstlerische Auseinandersetzung mit der neuen Rechtgläubigkeit, die ja nicht nur in Russland, sondern global für reichlich Probleme sorgt, wird also nicht von vornherein als unstatthaft betrachtet.
Anders, als ihr Name glauben machen könnte, ist Olga keine Russin, sondern die Hauptfigur in Nina Grosses Spielfilm „Olgas Sommer“. Der deutsche Wettbewerbsbeitrag gewinnt dem Genre des Roadmovie einige wirklich schöne Momente ab, obwohl er – oder vielleicht auch gerade weil er – die Rites de passage, die die Geschichte einer Entjungferung in Zeiten der Emanzipation kennzeichnen, ganz eins zu eins als einen Reisefilm inszeniert. Das zustimmende Lachen des Publikums sollte Verleiher und Filmförderungsinstitutionen ermutigen, zu versuchen, den Film gerade in Russland in die Kinos zu bringen. Denn Russland wird als Filmmarkt zunehmend interessant.
Untersuchungen zeigen, dass sich eine Mittelstandskultur in Russland entwickelt. Die Ausgaben für Produkte der Unterhaltungsindustrie haben sich gegenüber 2000 mehr als verdoppelt. 68 Millionen Besucher zählten die Kinos vergangenes Jahr, eine Steigerung von 70 Prozent gegenüber 2002. Bis 2007 rechnet die Produktionsfirma Nevafilm mit 200 Millionen Besuchern. Natürlich sind 167 Millionen Euro Einnahmen im Jahr 2003 wenig gegenüber den 850 Millionen, die im gleichen Jahr in Deutschland erzielt wurden. Bei uns freilich gibt es kaum mehr Zuwachsraten. In Russland liegen sie im zweistelligen Bereich.
Wie überall dominiert Hollywood auch hier den Markt. Doch nach der Fachzeitschrift Russian Film Business Today übertrifft das übrige europäische Kino mit seinen 4,9 Prozent Marktanteil selbst den Anteil des russischen Films. Und zwei Drittel der europäischen Filme sind französische Filme. Das sollte der Deutschen Export-Union zu denken geben. Sie fiel in Moskau erst einmal vor allem rührend auf, indem ihre Abgesandten, wo immer sie hingingen, stets ein tragbares und wie eine Dia-Leinwand aufziehbares „German Cinema“-Plakat installierten.
Der Aufwind, den das Kino jetzt erlebt, ist auch beim Moscow International Film Festival, einem A-Festival, zu spüren. Seit 1999 findet es nun jährlich statt, vorher nur alle zwei Jahre. Im Wissen um die Bedeutung des russischen Kinomarktes glaubt man in den nächsten fünf Jahren den Anschluss an die anderen A-Festivals wie Berlin, Cannes und Venedig erreichen zu können. Noch hat man den Eindruck, dem Festival fehle kulturell wie ökonomisch das Renommee, um die wirklich interessanten oder wenigstens großen und aufwändigen Produktionen für seinen Wettbewerb gewinnen zu können. Diese Filme werden wohl erst in Venedig zu sehen sein.
Ein wirklicher Aufschwung zeigt sich aber bei der russischen Filmproduktion. Über 100 Filme werden inzwischen jährlich hergestellt. Neben drei Beiträgen im Wettbewerb konnten in der Reihe „Russisches Kino heute“ rund 30 weitere Produktionen vorgestellt werden, dazu 23 Animationsfilme und 18 Dokumentationen. Die Qualität, besonders beim Spielfilm, kommt allerdings der Quantität nicht gleich. Doch passend am 22. Juni, dem Tag des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion, lief einer der interessanteren Filme im Wettbewerb, der eine neue Sicht auf den Großen Vaterländischen Krieg versucht. „Us“ erzählt in drastischen, gleichwohl kunstvollen Bildern die Geschichte von drei Kriegsgefangenen, die den Deutschen entfliehen können und ausgerechnet von dem als Kulak geächteten Vater des einen gerettet werden, während die sowjetische Polizei die Arbeit der Deutschen verrichtet und die Entflohenen sucht.
Auch Andrei Kudinenko, der 32-jährige Absolvent der Kunstakademie in Weißrussland, erzählt in seinem Debütfilm „Mysterium Occupation“ die Geschichte des Partisanenkriegs kontrovers zur offiziellen Geschichtsschreibung. Der Film ist revolutionär, schon weil er nicht vom Staat, sondern von einer privaten Werbefilmfirma produziert wurde. In Weißrussland darf er nicht gezeigt werden. Zunächst als Kurzfilm auf dem Filmfest Rotterdam gelaufen, konnte er dank eines Preises des Niederländischen Filmfonds auf 90 Minuten Spielfilmlänge erweitert werden. In „Us“ befiehlt der Kulak zu guter Letzt seinem geretteten Sohn, sich zurück zur Roten Armee durchzuschlagen, um das Vaterland zu verteidigen. Dieses große Einverständnis gibt der Film trotz seiner unorthodoxen Erzählung nicht auf.
Unpatriotisch freilich könnte man den Streit um das Musei-Kino nennen, die Moskauer Cinemathek, in der während des Festivals die Alexander-Kluge-Retrospektive läuft. Das 2000 gegründete Kino, das alte russische und internationale Filmklassiker sowie aktuelle Produktionen zeigt, hat seinen Sitz im Kinocenter, einem kommerziellen Multiplex und Spielcasino. Die Vereinigung der Filmschaffenden der UdSSR hält 32 Prozent Anteile am Kinocenter und möchte diese nun, nachdem der Verband sich aufgelöst hat und in einzelne Länderverbände zerfiel, an den Hauptanteilseigner Arlekino verkaufen. In diesem Fall müsste das Musei-Kino aus dem Komplex ausziehen, und es droht die Gefahr, dass die wertvollen Bestände an Filmen, Nachlässen und Publikationen, die dank der Unterstützung der Ford Foundation elektronisch katalogisiert sind, zerstreut werden und verloren gehen.