Heidenreich über Dylan Thomas: Verloren im walisischen Milchwald
Elke Heidenreich hat einen Biografie-Bildband über den walisischen Dichter und Bohemien Dylan Thomas geschrieben. Sie hangelt sich von Zitat zu Zitat.
Es gibt wohl kein Etikett, das Dylan Thomas nicht angehängt worden ist: gefallener Engel, Lyriker des Jahrhunderts, genialer Trunkenbold, Schürzenjäger - noch heute, 96 Jahre nach seiner Geburt in Swansea, der zweitgrößten Stadt in Wales. Hier, in der Arbeiter- und Hafenmetropole, begegnet man dem berühmtesten Sohn der Stadt überall. Dylan Thomas und Swansea sind wie Shakespeare und Stratford. Zu Dylans bekanntesten Werken gehört "Unter dem Milchwald". Wortgewaltig beschreibt er darin das Leben und die Menschen in einem kleinen walisischen Fantasiedorf.
Anfang der 1950er Jahre war Dylan ein Multimedia-Star. Er arbeitete für Film und Hörfunk, seine Lesungen und Theateraufführungen vor allem in den USA waren das, was man heute als künstlerische Events bezeichnen würde.
Nun hat sich die Autorin und Moderatorin Elke Heidenreich auf Spurensuche begeben - nach Südwales, der Heimat von Dylan Thomas. Zusammen mit dem Fotografen Tom Krausz hat sie jene idyllischen, melancholischen Orte zwischen Cardiff und Carmartenshire aufgesucht, in denen der walisische Nationaldichter lebte und arbeitete. Herausgekommen ist dabei ein großformatiger Text-Bild-Band - keine Biografie, mehr eine bebilderte Anthologie. Dazu gehört auch eine Auswahl der schönsten und bekanntesten Gedichte in deutscher und englischer Sprache.
Doch das Buch ist nichts anderes als ein ausgekippter Zettelkasten - gespickt mit fremden Zitaten, Anekdoten und Verweisen, die Heidenreich über viele Jahre fleißig zusammengetragen hat. Nirgends findet sich ein origineller eigener Gedankengang. Neuere britische Literatur über Dylan, die ein differenziertes Bild des Dichters zeichnen, kennt Heidenreich entweder nicht oder nimmt sie nicht zur Kenntnis. Stattdessen wiederholen sich Formulierungen wie "Paul McCartney hat gesagt", "seine Frau Caitlin schrieb", "der Schriftsteller Lawrence Durrel sprach".
Es ist die Rede der Anführungszeichen, die Heidenreich durchgängig benutzt. Nirgends finden sich Auszüge aus eigenen Interviews, die Heidenreich hätte führen können. Zum Beispiel mit Dylans noch lebendem Sohn oder seiner Tochter Aeronwy, die bis zu ihrem Tod sich jahrzehntelang um das literarische Erbe des Vaters kümmerte. Heidenreich erwähnt sie allenfalls und zitiert brav aus fremden Federn. Überall stößt der Leser auf anderswo erarbeitete Details. Von Malcolm Brinnin bis Jeff Towns, von Paul Ferris bis David N. Thomas - es ist alles schon einmal gesagt worden. Die Autorin unterschlägt das nicht etwa, aber sie hangelt sich von Zitat zu Zitat.
Exportgut Trunkenbold
Ärgerlich ist zudem die mangelnde Druckqualität einiger Schwarz-Weiß-Fotografien, die die schroffe Schönheit der südwalisischen Landschaft nur erahnen lassen. Darüber hinaus präsentiert das Autorengespann Heidenreich/Krausz eine Reihe veralteter Fotos von Orten, an denen Dylan Thomas gelebt hat, die aber mittlerweile renoviert wurden. Etwa Dylans Geburtshaus im Cwmdonkin Drive Nummer 5 in Swansea - ein unauffälliges Reihenhaus, das seit 2008 nach umfangreichen Restaurierungsarbeiten und im viktorianischen Stil möbliert sich den Besuchern präsentiert.
Dafür aber gibt es ein Bild der Autorin und dem in Bronze gegossenen Poeten in Swansea zu bewundern. Allerdings fehlt jeglicher Hinweis darauf, dass dieses Denkmal bei den örtlichen Literaturfans nicht nur Zustimmung hervorbrachte. Das jugendliche Gesicht habe überhaupt keine Ähnlichkeit mit dem Schriftsteller, so die Kritiker. Denn am Ende seines kurzen Lebens war der Dichter gezeichnet: aufgedunsen, dicklich, mit hellen, rot unterlaufenen Augen. Kein Wort bei Heidenreich darüber, dass Dylan in seiner Heimatstadt Swansea lange Zeit überhaupt nicht gewürdigt wurde.
Bis in die 1990er Jahre gab es in Wales eine Art puritanische Gegenbewegung. Den Leuten gefiel die Vorstellung nicht, dass ihr wertvollstes kulturelles Exportgut als Trunkenbold und Frauenheld bekannt war, als Bohemien und leichtlebiger Mensch. Das änderte sich erst, als Vertretern der Tourismusbranche und des Gemeinderats klar wurde, dass mit Dylan ein Geschäft zu machen war. Ein Hinweis, dass in diesem Jahr bereits zum vierten Mal der nach Dylan Thomas benannte Literaturpreis vergeben wird und dieser mit etwa 35.000 Euro zu den höchst dotierten Literaturauszeichnungen weltweit gehört - Fehlanzeige.
Wie schade. All das hat Dylan Thomas, den die Autoren den großen Unbekannten der Weltliteratur nennen, nicht verdient.
Elke Heidenreich, Tom Krausz: "Dylan Thomas. Waliser. Dichter. Trinker". Knesebeck Verlag, München 2011, 164 Seiten mit 32 Fotografien, 29,95 Euro
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Weltpolitik in Zeiten von Donald Trump
Schlechte Deals zu machen will gelernt sein
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit
Wahlarena und TV-Quadrell
Sind Bürger die besseren Journalisten?
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Trump macht Selenskyj für Andauern des Kriegs verantwortlich
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links