: Heftiges Zucken zwischen Dow und Jones
■ Wall Street: Rekorde und bullige Stimmung auf der Kursachterbahn / Computer verursacht die verrückteste Börsensitzung seit Erfindung der Aktie / Große Maklerunternehmen verdrängen kleine mit ihrem Programmhandel–Privileg / Chaos / „Wahnsinn“ / „Bullish“ / Warnende Zwischenrufe
Von Patrick McCash Flow
Wenn eine der Broker–Regeln in Wallstreet stimmt, daß nämlich die ersten Tage nach dem Geldwechsel den Börsenverlauf der kommenden 12 Monate widerspiegeln, dann ist mit einem hektischen und chaotischen Jahr 1987 zu rechnen. Die schon im Vorjahr an Rekorden nicht gerade arme New York Stock Exchange (Wall Street Börse) erklomm im Januar nicht nur die schwindelnde Höhe von 2.000 und kurz darauf gar 2.200 Index–Punkten, sie erlebte auch Umsatzrekorde und - am 23. Januar - die verrückteste Sitzung seit Erfindung der Börse im 17. Jahrhundert. Die Kurse zogen in den ersten Börsenstunden kräftig an, der Dow Jones Index, der 30 führende Industriewerte zusammenfaßt, stieg um 22 Punkte, wobei pro Minute etwa eine Million Aktien gehandelt wurden. Plötzlich und wie von Geisterhand bewegte sich der Index nach unten und stand um 12 Uhr mittags auf minus 19 Punkten, um 13.30 Uhr hingegen wurdenschon wieder 64 Punkte plus und ein neuer Rekord registriert: nie machte der Index an einem Tag einen solchen Sprung. Diese Euphorie schien jedoch so zu schrecken, daß wieder Verkäufe einsetzten, das Barometer „Dow Jones“ fiel um 114 Punkte auf minus 41,2 Indexpunkte, erholte sich wieder auf minus 8, um mit dem Schlußgong wieder auf 44 Punkte unter dem Eröffnungsstand zu fallen. An diesem Tag wurden 302,4 Millionen Aktien in Wall Street gehandelt, doch ist es weniger diese abenteuerliche Menge, die altein gesessene Börsianer verunsichert, es sind die aberwitzigen Kursausschläge, die damit zusammenhängen. Es ist keine Geisterhand, die diese Schaukelbewegung verursacht, aber eine menschliche ist es auch nicht. Es sind die Computer und Börsenhändler, die den Kursverlauf jeder Aktie permanent auf seine Verfassung abklopfen und sobald eine Trendwende einsetzt, die Order „Kauf“ oder „Verkauf“ geben, wobei zur Berechnung des Trends nicht die Aktie selbst, sondern die sehr viel sensibleren Optionen und die Optionen auf Optionen beobachtet und Veränderungen in Sekundenschnelle hochgerechnet werden. Schon in der Vergangenheit hat dieser Programmhandel zu massiven Kursaufschwüngen aber auch -abschwüngen geführt. Was jedoch am 23. Januar geschah, konnten die meisten Wall Street Jobber nur mit einem Prädikat umschreiben: „Wahnsinn“. Auch Kritik wurde laut, die Börsenaufsichtsbehörde SEC (Security and Exchange Commision) kündigte eine Untersuchung des Vorwurfs, der Programmhandel sei ein Privileg der großen Maklerunternehmen und vertreibe kleine und mittlere Anleger, an. Sie gerieten in den Sog der computerverursachten Kursbewegungen, gegen den sie ohnmächtig seien. Tatsächlich kommen ja extreme Kursschwankungen zu stande, weil alle jeder sich abzeichnenden Bewegung nervös zu folgen versuchen, wobei nicht mehr die diffus „herrschende Meinung“ sondern ein Rechner das Tempo vorgibt und, weil er mit seinen Orders riesige Pakete bewegt, die Trends setzt. Zwar ist die Bewältigung des Aktienhandels ohne Computer gar nicht mehr denkbar, andererseits sind „konvulsivische“ Zuckungen, wie sie Wall Street vergangene Woche vollführte, Gift für die Stimmung der Anleger und geben Wasser auf die Mühlen der Crash– Philosophen, die befriedigt wieder eine Parallele mehr zum Schwarzen Freitag in ihr apokalyptisches Tagebuch aufnehmen. Deshalb werden die großen Bro ker–Häuser es sich reiflich überlegen, ob sie die Order ihrer Rechner auch in Zukunft Wirklichkeit werden lassen oder sie nicht lieber einfach ignorieren: Das Chaos, das sie produzieren, ist schlimmer als die paar Prozent Gewinn, die sie versprechen. Letztlich ist es ja auch gar nicht der Computer, der den Kleinanleger zur Ohnmacht verdammt, es ist die alte Rolle der Großanleger, die nicht wegen ihres genauen Rechners sondern wegen des vielen Geldes die Kurse beeinflußen können. Der Computer stellt nur eine einheitliche Meinung unter allen Großanlegern her, läßt Kräfte also in einer Richtung tätig werden, die sich früher unter Umständen gegenseitig ausgeglichen hätten. Bedrohliche Schwankungen sind so im wahrsten Sinne des Wortes vorprogrammiert, die ehedem undenkbar waren. Auch nach den Berg– und Talfahrten ist die Stimmung an Amerikas Börsen über die Maßen „bullish“, also auf Hausse (steigende Kurse) fixiert und allen Inflationsgefahren zum Trotz scheint sich das mit jedem Cent, den der Dollar an der Wechselkkursstelle wert ist, zu verstärken. Noch herrscht, ähnlich wie in der BRD, eine lange nicht mehr dagewesene Preis–Stabilität und wenn ein fallender Dollar die Exporte begünstigt und auch die Inlandsnachfrage anheizt, weil importierte Güter teurer werden - was, so fragt man sich in Wall Street, soll die US– Wirtschaft eigentlich noch aufhalten? Und was die Kurse an der US– Börse, wenn ausländische Anleger bei den für sie günstigen Dollarkursen massenweise einsteigen? Zudem stehen, nach Diskontabschlägen in der Bundesrepublik, auch in den USA Zinssenkungen an, was den Aktienkursen ebenfalls gut bekommen sollte. Wenn darüber der Nikkei Dow Jones in Tokio auf extrem hohem Niveau stagniert und in Frankfurt der FAZ–Index wegen täglich sinkender Export–Aussichten kläglich nach unten taumelt - wo, wenn nicht in den USA, von Nebenmärkten wie Madrid, Mailand, Paris abgesehen, wird mit Aktien 1987 zu verdienen sein? Zwar fehlt unter all diesen Wall Street–Euphorien nicht der eine oder andere warnende Zwischenruf. Für die nächsten Monate indessen ist mit neuen Rekorden aus New York zu rechnen, selbst wenn sich an der fundamentalen Malaise der US–Finanzen kaum etwas geändert hat oder absehbar ändern wird.
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