"Havemann" rehabilitiert: Familiendrama DDR
Jan Philipp Reemtsma trifft auf Florian Havemann. Sie sprechen über "Havemann", ein vielgescholtene familien-biografische Werk. Und einigen sich: Skandalös ist die herdenhafte Literaturkritik.
Florian Havemann hat ein 1.000 Seiten dickes Buch mit dem Titel "Havemann" geschrieben. Es ist Roman, Autobiografie und Familiengeschichte. Es beschreibt seinen Großvater, der Nazi war, seinen berühmten Vater Robert, der im KZ war, später kommunistischer Funktionär, dann Dissident. Und es erzählt von ihm selbst, der mit 16 im DDR-Knast war, weil er gegen den Einmarsch der Russen in Prag demonstrierte. "Havemann" ist ein beeindruckendes Werk, selbstverliebt und doch genau beobachtend, das deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert zum Familienroman komprimiert.
Kaum ein Buch der letzten Jahre hat so viel Skandal gemacht wie dieses. Die Kritiken waren vernichtend. Manche Rezensenten empfahlen dem Autor eine Psychotherapie. Er sei ein miserabler Autor, hieß es, der sich mit Mitte 50 noch als pubertierender Flegel aufführe und Tratschgeschichten über ehrenwerte Zeitgenossen wie seinen Vater oder Wolf Biermann unter das Volk bringe. Ein rachsüchtiger Versager, mehr nicht. Havemanns Geschwister klagten gegen das Werk. Etwa 70 Seiten sind in der zweiten Auflage geschwärzt. Florian Havemann ist daran nicht unschuldig. Er hat seine Prosa irgendwo im Ungefähr zwischen Wahrheitsbehauptung und Fiktion angesiedelt. "Das ist meine Wahrheit", sagt er trotzig im Berliner Brecht-Haus.
Dort hat man neben ihm Jan Philipp Reemtsma eingeladen, Literaturkenner aus Hamburg. Reemtsma und Havemann, sagt die Moderatorin Kerstin Decker, kennen sich nicht. Das Gespräch ist ein Experiment.
Reemtsma berichtet, dass er 2007 Kritiken über das Buch las und entschlossen war, es zu ignorieren. "Klatschgeschichten über Biermann interessieren mich wirklich nicht", sagt er. Als er es doch in die Hand nahm, entdeckte er eine differenzierte "moralphilosophische Betrachtung über die Reichweite von Urteilen" - gerade was den von der Kritik skandalisierten Umgang des Sohnes mit dem Vater Robert Havemann betrifft.
Reemtsmas Urteil ist ein Adelsschlag, endlich eine verdiente Rehabilitierung. Reemtsma ist nicht irgendwer, sondern einer der wenigen Großintellektuellen seiner Generation. Havemann wirkt ungebrochen jungenhaft und schnoddrig. Reemtsma professoral und distanziert. Kaum zu glauben, dass beide gleich alt sind, 56.
Ihr Gespräch erweist sich weitenteils als Verfehlung. Havemann, der gern und viel über sich redet, agitiert gegen die Schwärzungen des Textes. Und gegen seine Schwester. In der DDR hat der Staat zensiert, sagt er, heute passiert privatrechtlich das Gleiche. Das ist maßlos übertrieben, Rechtspolitik in der ersten Person gewissermaßen. Reemtsma befindet sachlich, dass die Schwärzungen zu weit gehen und der Suhrkamp Verlag vorauseilend in die Knie ging, anstatt vor Gericht pflichtgemäß für sein Buch zu kämpfen.
Havemann sucht Rekruten für den Kampf um seine Wahrheit und gegen seine Schwester. Reemtsma zieht knapp die Augenbraue hoch, um zu bedeuten, dass er zum Familienrichter oder gar Mitkombattanten nicht taugt. "Es gibt viele wechselseitige Verletzungen", befindet er, in die sich einzumischen er nicht die geringste Neigung zeigt. Havemann klagt die falsche juristische Interpretation der Persönlichkeitsrechte im hiesigen Zivilrecht an. Reemtsma hält das für "ein schwieriges Feld", verweigert die Komplizenschaft.
Der Streit zwischen Havemann und seiner Schwester wirkt wie ein letztes, schräges Echo des DDR. Vielleicht konnte man keinen Staat so genau als Familiengeschichte abbilden wie die DDR, mit hartherzigen Vätern und zornigen Söhnen. Die Rebellen waren oft die Kinder der Minister und Funktionäre, die die DDR gegründet hatten. Der bittere Zwist zwischen den Havemann-Kindern wirkt wie der trostlose allerletzte Akt des Familiendramas DDR.
Am Ende ist man sich einig, dass nicht das Buch der Skandal ist, sondern die herdenhafte Literaturkritik, die Schönheit und Reichtum des Werkes übersah. Ein intensiveres Buch über die DDR, 20 Jahre nach dem Mauerfall, finden sie nicht, meint Kerstin Decker.
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