Havarie an Japans Akws Fukushima I + II: Kühlung von 6 Reaktoren ausgefallen
Druckbehälter im Block 1 des Akw Fukushima I wird notdürftig mit Meerwasser gekühlt. Es ist unklar, ob es zur Kernschmelze kam. Auch im Block 3 fiel die Kühlung aus – im nunmehr 6. Reaktor.
TOKIO/BERLIN taz/dpa/dapd/afp/rtr (letzte Aktualisierung Sonntag früh 2:20 Uhr) | In einem weiteren Reaktorblock am Akw Fukushima I (Daiichi) hat sich nach neuesten Meldung die Lage verschärft. Wie ein Sprecher der Betreiberfirma Tokyo Electric Power (Tepco) mitteilte, versagten am Sonntagmorgen (Ortszeit) im Reaktor 3 alle technischen Funktionen, um den erforderlichen Kühlwasserstand aufrecht zu erhalten.
"Um 5.30 Uhr hat die Versorgung mit Wasser aufgehört, und der Druck im Inneren erhöht sich allmählich", sagte der Sprecher. Tepco habe der Regierung Bericht erstattet. Damit ist nun offenbar am sechsten Reaktor an den beiden Akw-Standorten Fukushima I und II die Kühlung ausgefallen.
Regierungssprecher Yukio Edano erklärte dazu am Sonntag, dass nun auch hier der Druck reduziert werde, indem man radioaktiven belasteten Kühlwasserdampf aus dem Reaktor ablässt. Das ist offenbar kurz darauf auch passiert.
Am gefährlichsten ist aber nach wie vor die Lage am Block 1 des Akw Fukushima I. Der von einer Kernschmelze bedrohte Reaktorblock wird derzeit mit Meerwasser notgekühlt. Regierungssprecher Edano hatte am Samstag in Tokio erklärt, der Reaktordruckbehälter aus Stahl sei trotz der Explosion im umgebenden Gebäude noch intakt und nicht beschädigt.
Am Samstagmorgen um etwa 9.30 Uhr (unserer Zeit) war das Reaktorgebäude nach einer Explosion unterm Dach eingestürzt, der Reaktordruckbehälter des Blocks 1 aber offenbar intakt geblieben. Der innere Reaktordruckbehälter stellt den wesentlichen Schutz der Anlage dar. Von dem umgebenden Gebäude steht nur noch das Gerüst (siehe Foto).
Um den Reaktor vom Block 1 wieder zu kühlen, wird seit dem späten Samstagabend (Ortszeit) Meerwasser in den Reaktordruckbehälter gefüllt. Dem Wasser werde Borsäure beigemischt, um eine mögliche Kettenreaktion in den Brennstäben abzubremsen. Am Sonntagmorgen (japanische Ortszeit) erklärte Regierungssprecher Yukio Edano, durch das Einfüllen von Meerwasser seien inzwischen die Brennstäbe wieder komplett mit Kühlwasser bedeckt. Nun müsse erneut Druck, also Kühlwasserdampf, aus dem Reaktor abgelassen werden.
Der japanische Ministerpräsident Naoto Kan war am Samstag selbst mit einem Hubschrauber am Akw, um sich ein Bild der Lage zu machen. 'Eine kleine Menge Radioaktivität ist entwichen", erklärte er hinterher laut Kyodo.
Eine Kernschmelze – oder doch nicht?
Weil in der Nähe der Anlage auch radioaktives Jod und Cäsium gemessen wurde, geht Japans Agentur für Atomsicherheit dagegen davon aus, dass die Brennstäbe teilweise geschmolzen sind. Eine partiale Kernschmelze also. Das berichtete am Samstag die japanische Nachrichtenagentur Kyodo. Doch in den Stellungnahmen der japanische Regierung ist davon keine Rede.
Am Samstagabend erklärte Bundesumweltminister Norbert Röttgen dazu im ARD-Fernsehen, dass es "widersprüchliche Angaben" zu der Frage einer Kernschmelze gebe. Starke Indizien sprächen jedoch für eine Kernschmelze, insbesondere die Messung von radioaktivem Cäsium und Jod.
Der ehemalige Chef der Atomaufsicht in Deutschland, Wolfgang Renneberg, sah bereits am Samstagnachmittag keine Chance mehr für eine Kontrolle des Meilers Fukushima I. "Das ist das klassische Szenario, das den sogenannten Super-GAU umschreibt", sagte Renneberg. Eine Kühlung des Reaktors sei offenkundig nicht mehr möglich, die Batterien zur Versorgung des Systems müssten am Samstagmorgen erschöpft gewesen sein.
Auch Greenpeace ging am Samstag nach eigenen Angaben von einem nicht mehr vollständig kontrollierbaren Super-GAU in der Anlage aus.
Das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi, auch Fukushima I genannt, besteht aus zwei Baukomplexen, einer von vier und einer von zwei Reaktoren und liegt direkt am Meer, war also Erdbeben und Tsunami unmittelbar ausgesetzt. Es befindet sich rund 270 Kilometer nordöstlich von Tokio. Alle sechs Blöcke sind schon recht alt: Sie gingen in den siebziger Jahren ans Netz. Zwei weitere sind geplant. Drei der sechs bestehenden Reaktorblöcke waren zum Zeitpunkt des Bebens wegen Wartungsarbeiten komplett abgeschaltet gewesen. Am Freitag hatte es an zweien der Blöcke Probleme mit der Kühlung gegeben. Sonntag früh (Ortszeit) kam noch der dritte Block hinzu.
Ernste Probleme gab es in der Nacht zum Samstag auch in dem 12 Kilometer weiter südlich gelegenen Atomkraftwerk Fukushima Daini, auch Fukushima II genannt, das aus vier Reaktoren besteht. Am Samstag früh um 8 Uhr Ortszeit meldete die japanische Nachrichtenagentur Kyodo, dass auch hier das Kühlsystem von drei der vier Reaktoren ausgefallen sei.
Und auch für diesen Meiler wurde der nukleare Notstand ausgerufen. Inzwischen hat der Betreiber Tepco nach eigenen Angaben im Laufe des Samstages (Ortszeit) an allen vier Blöcken von Fukushima II aus Sicherheitsgründen kontaminierten Kühlwasserdampf und damit Druck aus dem Reaktordruckbehälter abgelassen.
Verwirrung um Explosion am Akw
Was die Explosion im Reaktorgebäude von Block 1 am Akw Fukushima I am Morgen angeht, kamen im Verlauf des Tages sehr verwirrende Informationen von der japanischen Regierung. Während es zuerst hieß, dass es keine Explosion gegeben habe, wurde einige Stunden später eine Explosion bestätigt, die aber nicht im Reaktordruckbehälter stattgefunden habe.
Am späten Mittag schließlich erklärte Regierungssprecher Edano die Explosion folgendermaßen: Durch das Absinken des Kühlwasserstandes in dem Siedewasserreaktor habe sich Wasserstoff gebildet, der in das Reaktorgebäude ausgetreten sei. Dort habe sich der Wasserstoff beim Kontakt mit Sauerstoff entzündet und habe die Explosion verursacht, durch die das Reaktorgebäude eingestürzt sei. Im Inneren der Stahl-Reaktorhülle habe es aber keine Explosion gegeben.
Die japanische Regierung hat den Evakuierungsradius um die havarierten Kernkraftwerk Fukushima Daiichi auf 20 Kilometer ausgeweitet. Die radioaktive Strahlung gehe nach einem Anstieg wieder zurück, so die Agentur Kyodo. Der Evakuierungsradius um das zweite havarierte Akw, das 12 Kilometer entfernte Akw Fukushima Daini ("Fukushima II"), wurde auf zehn Kilometer angesetzt.
Schon 140.000 Menschen in Sicherheit gebracht
Wie die Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) am späten Samstagabend (unserer Zeit) bekanntgab, wurden bislang rund 140.000 Menschen evakuiert aus den Regionen um zwei japanische Atomkraftwerte. In einem Radius von 20 Kilometern um Fukushima Daiichi seien etwa 110.000 evakuiert worden, in der Umgebung von zehn Kilometern um die Anlage Fukushima Daini rund 30.000 weitere. "Die kompletten Evakuierungsmaßnahmen wurden noch nicht abgeschlossen", teilte die IAEA mit.
Wie die japanischen Behörden Sonntagnacht unserer Zeit erklärten, könnten bis zu 160 Personen der Strahlung ausgesetzt gewesen sein. In Evakuierungszentren wurden Flüchtende daraufhin untersucht.
Laut dem Betreiber Tepco hat es am Akw Fukushima Daiichi vier Verletzte gegeben. Keiner sei lebensgefährlich verletzt und alle seien bei Bewusstsein, hieß es.
Röttgen sieht keine Gefahren für Deutschland
Eine Gefährdung Deutschlands vom beschädigten Atomkraftwerk in Fukushima kann nach den Worten Umweltminister Norbert Röttgen "praktisch ausgeschlossen werden". Diese liege an der großen Entfernung und der Wind- und Wetterlage, sagte Röttgen am Samstag vor Beginn eines Landesparteitags der nordrhein-westfälischen CDU in Siegen. In Japan wehe der Wind vom Festland auf den Pazifik und nicht in westliche Richtung.
Bundeskanzlerin Angela Merkel, Außenminister Guido Westerwelle und Umweltminister Norbert Röttgen erörterten am Samstagabend bei einem Krisentreffen die Konseqenzen aus dem Reaktorunfall: Kanzlerin Merkel (CDU) kündigte angesichts des Atomunfalls in Japan die Überprüfung der Sicherheitsstandards bei den deutschen Akws an.
"Die Geschehnisse in Japan sind ein Einschnitt für die Welt", sagte Merkel. Wenn in einem solch hoch entwickelten Land wie Japan mit höchsten Sicherheitsstandards ein solcher Unfall passiere, könne "auch Deutschland nicht einfach zur Tagesordnung übergehen". Schwarz-Gelb will daher die technischen Standards in Deutschland überprüfen. Politisch folge dagegen nichts aus der Havarie.
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