Hauptstadtmusik: Musik ist nolens volens Musik
■ Vergangenheitsbewältigung subtilster Art auf der Berliner Musik-Bie nnale
O Hoffnung! Holde, gütiggeschäftige! Es geht aufwärts. Erstens wird jetzt nicht mehr „abgewickelt, sondern weiterentwickelt“, sagt Festspiel-Eckhardt; und meint damit nichts Geringeres als ein „aufschlußreiches Element der deutschen Nachkriegsgeschichte“ oder vielmehr die DDR-Musik-Biennale, die morgen in Berlin mit leicht gekürztem Titel — geringfügig zeitverschoben sowie unter neuem Dach, dem Eckhardtschen nämlich — zum immerhin vierzehnten Male startet. Zweitens hat die Berliner Festspiele-GmbH flankierend zu diesem freudigen Ereignis ein druckfrisches Lese-Element herausgegeben. Es putzt ungemein und sieht außen genau so badezimmerblau aus wie der alte Reclam-Bestseller von Frank Schneider („Politische Porträts großer Komponisten“) — eben jenem Schneider, der seit einem Jahr als Intendant des Schauspielhauses am Gendarmenmarkt amtiert. Das Element ist unter anderen „hrsg.“ von Schneider. Und es trägt den Titel: „Neue Musik im geteilten Deutschland. Dokumente aus den fünfziger Jahren“.
Zwar ist das Buch recht schlecht gebunden (O Henschel! Geizig Geschäftstüchtiger!), ja, es brach mir schon nach kurzer, zaghafter Nutzung in zwei Stücke auseinander. Doch bitte ich, das nicht symbolisch zu nehmen; einige meiner besten Bücher sehen ganz ähnlich aus, und auf die Form kommt es nicht an. Wichtiger scheint mir da eine Formel, die ich so oder so in vielfältigster Formulierung „zwischen aggressiver Polemik und subtiler Nachdenklichkeit“ (S.4) drinnen immer wieder finden konnte, und zwar zumal in den kenntnis- und windungsreichen Kommentaren, mit denen Schneider als Ostexperte (neben Westexperte Ulrich Dibelius) diese schöne Dokumentation wechselweise würzt: die „Musikszene Hüben und Drüben“, so schreiben die zwei (S.267), stand und steht, da „alternativ“ (S.267) und „musikalisch aufrechten Ganges“ (S.208), allemal irgendwie „quer“ zu wie auch immer Drüben oder Hüben „staatlicher Willkür“ (S.77) und „restriktiver Kulturpolitik“ (S.366).
Das hört sich gut an. Das klingt ähnlich dem, was bereits Hans- Werner Henze einst in jugendlichem Sturm und Drang so unübertroffen klassisch schlicht auf den Begriff gebracht hat, nämlich: „Musik ist nolens volens politisch.“ Mit anderen Worten: Ob sie nun wollen oder nicht. Ob sie's überhaupt selbst merken oder nicht. Ob das „Kunstklima“ hier wie dort den Stachel spürt oder nicht. Das alles ist egal — Komponisten heutzutage sind immer in Opposition und also schon „per se“ Widerstandskämpfer und damit basta.
In Westdeutschland, wo die „materialfixierte Avantgarde“ (S.4 ff.) blühte, waren sie das eher objektiv, in Ostdeutschland, wo „funktionsorientiert“ der „sozialistische Realismus“ (S.4 ff.) umging, mehr subjektiv. Und das Problem, wie sich ein „politisch fortgeschrittenes Bewußtsein mit dem höchsten ästhetischen Standard verbinden“ (S.370) könne, genau das war dann die Crux der Teilung.
Eine Voraussetzung für den Widerstand allerdings ist Qualität. Oppositionelle können, soviel wird klar, nur „gute“ Musiker sein und die „wirklich klugen Köpfe“ (S.376). Die mißliche „Schicht der Mediokren“, „Mittelmaß“, „Mittelbau“ (S.367), oder aber sonstwie „schreibwillige hinterwäldlerische Komponisten“ (S.208) sind von diesem Naturgesetz natürlich ausgenommen. Womit wohl diejenigen gemeint sind, die der Musikgeschichte seit jeher nichts als Ärger gemacht haben — jene zu Recht so genannten Kleinmeister, deren sinnloses Gewusel die ruhig und sicher ihre Kreise ziehenden Klassiker letztlich nicht darin zu stören vermögen, wenn sie „engagiert ihr Werk verrichten“ (S.267).
Paul Dessau zum Beispiel war solch ein Klassiker. Er hat (volens) „natürlich schon rebelliert in kleiner Weise“ gegen die DDR-Kulturpolitik und (nur nolens, also „sozusagen“) deren „terroristische Nebenwirkungen mitgetragen“ (S.376). Dessau gehörte, wie Schneider weiß, schon in den frühen Fünfzigern jenem „alternativen Kunstklima“ der DDR an, in das fortschrittliche junge Westler wie Henze „gewisse Hoffnungen“ (S.267) setzen durften. Und Dessau hat, auch das wird endlich geoutet, in cleverer „Mimikry-Aktion“ (S.376) das Formalismus-Verdikt der „offiziellen Kunstdoktrin des sozialistischen Realismus“ unterwandert und „in einer sehr merkwürdigen Art von Zwölftönigkeit“ (S.377) gegen Ende seiner Lukullus-Partitur die Töne es-e-d eingewebt, was als „tonsymbolische Permutation von SED“ (S.208) unter diesen Umständen und „in Gesellschaften dieser Art“ (S.376) beinahe schon als offener Staatsstreich gelten muß und gewiß auch so gewirkt hätte — hätte es nur jemand gemerkt.
Was Schneider, als er das schrieb, nicht wußte: in bekannt gemeiner Weise hat der Spiegel nur wenige Tage, bevor das laue Buch jetzt auf den Markt kam, verbreitet, daß Paul Dessau eben jene Tonformel es-e-d (SED) auch später noch gern — und zwar leitmotivisch — verwendete, so etwa im Jahre 1976, in der „Chormusik No. 5 mit großem Orchester und Bass-Solo nach einer Rede unseres ersten Sekretärs Erich Honecker“ — einem Paradestück, das vielfache Ehre und noch zu den DDR-Musiktagen 1984 feierlichste Aufführung erfuhr. Im Spiegel fällt man aus diesem Anlaß wieder einmal höhnisch über den Dichter Heiner Müller her, der Erichs Rede zum Zwecke von Pauls Vertonung in Zeilen wie diese umgegossen hatte: „Wir vergessen nicht! Jeder Erfolg des Sozialismus ist ein Beitrag für die große weltrevolutionäre Bewegung unserer Zeit!“
Das war doch, rein „materialfixiert“ versfüßig gesehen, gar nicht mal schlecht gedichtet. Müller hätte halt Musiker werden müssen. Dann wäre er jetzt ein Widerstandskämpfer und stünde neben Schneider & Co. schwuppdiwupp schon wieder zweifelsfrei auf der richtigen Seite unserer gemeinsamen Geschichte. Eleonore Büning
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