Hauptstadtmusik: Klassik fürs Kind, fürs Volk und für die Katz'
■ Zwei Konzerte in Friedrichsfelde, vier Weihnachtsoper(ette)n und ein Radio-Palaver in der Akademie
Kind und Oper gehören zusammen, soviel ist sicher: bei beiden Gattungen handelt es sich, sozial gesehen, um puren Luxus – und außerdem neigen sowohl Kinder wie Opern zu extrem surrealistischen Problemlösungen. Derzeit bieten Berlins Opernhäuser zum Thema an: erstens Debussys „Spielzeugkiste“ (Staatsoper, langweilig, nicht hingehen); zweitens Rimskys „Märchen vom Zaren Saltan“ (Komische Oper, bunt und laut, hingehen); drittens hat die Neuköllner Oper soeben für das Kind im Manne Offenbachs Einakter „Ritter Eisenfraß“ reanimiert. Worüber sich Karl Kraus riesig gefreut hätte und wobei auch die Kunst voll ins Leben greift, denn das liebwerte Publikum ist gebeten, während der Vorführung tüchtig selbst zu tanzen und zu trinken (also unbedingt hingehen); viertens sind, wie alle Jahre wieder, dringend „Hänsel & Gretel“ in der Bismarckoper zu empfehlen, diesmal sogar im Doppelpack: einmal echt mit Orchester für große Kinder, und einmal nur mit Klavier für die ganz Kleinen. Natürlich weiß jedes Kind, daß es in Wirklichkeit eigentlich genau umgekehrt sein muß. Trotzdem ist der in der Tat unglaublich unwirkliche und deshalb auch so unverwüstliche Weihnachtshumperdinck, egal in welcher Fassung, augenblicks ausverkauft gewesen. Wäre nur jeden Tag Weihnachten und/oder Neujahr, dann könnte man alle Opernhäuser getrost privatisieren: sie zeigen einfach nur noch Knusperhaus, Fledermaus etc. – schon liegt die Platzauslastung todsicher über hundert Prozent.
Weit unter einem Prozent liegt seit alters her die Einschaltquote für die klassische Kulturwelle des Senders Freies Berlin (SFB 3). Gerade deshalb kommt sie öfters ins Gerede – denn die fünf oder sechs Leute, die heutzutage noch selber Radio hören, möchten natürlich dann auch gerne darüber reden. Das wiederum ärgert Herrn von Lojewski. Er mache lieber „Selbstkritik“, meinte der SFB-Intendant neulich auf einer Podiumsdiskussion in der Akademie der Künste (Brennglas Berlin: Öffentlich-rechtlicher Rundfunk mit Zukunft). Doch dazu sollte es gar nicht kommen. Denn sobald einer laut: „SFB“ sagte, sprang Herr v. Lojewski auf und drohte zu gehen. Er wäre gar nicht erst gekommen, rief der SFB-Intendant ein ums andere Mal aus, hätte er gewußt, daß man hier über den SFB redet! Weil nun die übrigen Podiumsgäste alle Hände voll zu tun hatten, ihn immer wieder zurückzubitten (einmal war er beinahe schon zur Tür raus), kam die Sache nie zum Klappen. All die schönen frechen Anklagepunkte von der langen „Liste des Mißvergnügens“, die eingangs von Radio-Journalist Diether Huhn verlesen worden waren, blieben undiskutiert und für die Katz' – wenigstens einer hier noch mal zum Nachlesen: der SFB, so Huhn, hat im Kleistschen Sinne „keinen Traum von sich“. Die SFBler denken nicht mehr an die Kunden (Hörer) und an das Produkt (Programm), sondern nur noch an die Betriebspolitik. Und sie leisten sich Management- Beratung („Quickborner Studie“), statt sich für's gleiche gute Geld Ideen zu kaufen – wenn sie schon selbst keine eignen mehr haben. Da hat der Herr Huhn ganz recht – wie das Herumfummeln an „Klassik zum Frühstück“ zeigt. Der Konflikt ist jetzt offiziell beerdigt, der Ruf freilich ruiniert und nun läuft eine neue Sendung unter altem Namen fort und fort und ist, findet jedenfalls Lojewski, irgendwie „frischer“ geworden. Gewiß, auch das ist richtig: zwischen zwei Walzern ein Zötchen über Goethes Gretchen, und mitten in der Frühkritik ein herzhafter Herrenwitz über den schwulen Tschaikowsky. Prima frischwärts. Nur gibt es eine noch viel tausendmal frischere, ja, die gewiß allerfrischeste Frühstücksklassik im ganzen Lande: „Klassik Radio“, keineswegs mehr hinter den sieben Bergen, sondern seit letzte Woche mitten in Berlin.
Wie eine leckere rosa Papp- Attrappe prangt stadtrandnah direkt am Tierpark das Schloß Friedrichsfelde. Es war erst wenige Jahre vor der Wende repräsentativ hergerichtet worden, zu welchem Behufe allerlei andere märkische Landschlößchen (in Caputh und Baruth und Paretz) ihre Bilder und Wandbespannungen hatten opfern müssen, was eine Hauptstadt beim Volke nicht unbedingt beliebter macht. Doch man muß zugeben: die wilden Stilmischungen im zusammengeklauten Interieur des Schlößchens sind wirklich bemerkenswert – und die Konzerte, die wochenends in dem kleinen falschen Festsaal stattfinden, oft echte Perlen. Manchmal musizieren Musikstudenten. Eckehard Kupke beispielsweise spielte neulich wundersam virtuose Stücke für Fagott, darunter eine Sonate von Saint-Saens, der überhaupt keine Rücksicht nimmt auf die zwei oder drei verschiedenen Klangseelen, die in diesem Instrument wohnen: tief und bitter, hoch und komisch, in der Mitte warm und herzlich. Manchmal musizieren in Schloß Friedrichsfelde auch Musik-, ja sogar Musikgeschichtsprofessoren. So begab es sich, daß Elmar Budde dort neulich an den Flügel trat und eine eigenhändig angefertigte Klavierfassung der tragischen Marfa-Szene für Mezzo und Orchester aus Schillers „Demetrios“, komponiert von Joseph Joachim, begleitete. Joseph Joachim, den wenigsten Musikfreunden bekannt und wenn, dann bestenfalls als Busenfreund von Brahms, war nicht nur ein großer Geigenvirtuose, sondern vor allem ein Prototyp: er war, wie nach ihm noch viele Juden, einer der ersten Hohepriester klassischer deutscher Kunst.
Die ihm und seiner Frau, der Sängerin Amalie Schneeweiss, gewidmete Vortrags- und Konzertreihe in Berlin-Friedrichsfelde hat hohen Seltenheitswert. Erstens, weil hier Musik zu hören ist, die es nicht wohlfeil auf CD zu kaufen gibt (und die dringend einmal eingespielt werden sollte, so zum Beispiel Joachims Hebräische Melodien op. 9, die Hartmut Rohde vorzüglich auf der Viola vortrug). Zweitens, weil viel Neues zu erfahren ist, was uns nicht gratis beim Aufschlagen eines Musiklexikons entgegenpurzelt. Drittens, weil die Moderatoren (Beatrix Borchard und Norbert Meurs) die Erträge ihrer Forschung auf erfreulich unterhaltsame Weise verbreiten: sich ihren Zuhörern weder plump vertraulich auf den Schoß setzen noch sie von oben herab ansülzen. So geht es auch. Klassikfreunde, die morgens vom Frühstück bedient sind, können sich also abends in Schloß Friedrichsfelde wieder erholen. Die nächsten Joachim-Konzerte finden dort mit dem Kreuzberger Streichquartett am 12. und 13. Februar statt. Eleonore Büning
Tja, liebe Leserinnen und Leser: Dieses war die letzte Hauptstadtmusik, überhaupt der (vorläufig) letzte taz-Artikel von Eleonore Büning. Wir wünschen unserer dienstältesten Musikautorin viel Glück bei ihrem Aufbruch zu neuen feuilletonistischen Ufern.
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