■ Kommentare Religionsverständnis der Gläubigen wird immer bunter: Hauptsache, es hilft
Das religiöse Wunder, verstanden als seltsamer, außergewöhnlicher Tatbestand, ist so alt wie die Menschheit. Die christliche Religion griff dieses Konzept auf, um die Allmacht Gottes zu beschreiben. Neben dem offiziellen Religionsverständnis entstand so eine volkstümliche Religionsauffassung, wesentlich eingänglicher und heterodoxer. Der Wunderglaube führt zu einer Unzahl von verschiedenen kultischen Handlungen, denen eines gemein ist: die unmittelbare Nähe zum Heiligen, personifiziert in Bildnissen, Weih- und Opfergaben, et cetera. Symbole, die alle eines gemeinsam haben: das Heilige soll zum persönlichen Nutzen einsetzbar gemacht werden.
Das Wiederaufleben der Religion ist der direkte Ausdruck der Krise der Moderne und des Fortschrittsglaubens, der die feste Überzeugung beinhaltet, daß die mit ihm unvereinbare Religion langsam, aber sicher verschwinden würde. Der Mythos vom unabänderbaren gesellschaftlichen Fortschritt ist Geschichte. Mit seinem Niedergang erleben die unterdrückten kollektiven religiösen Gefühlsäußerungen, und mit ihnen die Faszination des Unerklärbaren, ihre Renaissance. Die neue Religiosität ist weit weniger in institutionelle Bahnen gezwängt als einst. Jeder greift sich heraus, was ihm richtig und wichtig erscheint — eine Religion à la carte.
In diesem neuen, populären Religionsverständnis nimmt der Wunderglaube, die Hoffnung auf individuelle Verbesserung der unmittelbaren Lebenssituation durch übernatürliche Phänomene, einen wichtigen Platz ein. Der Boom entsprechender Fernsehsendungen, Bücher, Zeitschriften, Sekten, der Esoterik, et cetera sind Zeugen von diesem volkstümlichen Heißhunger auf Wundersames.
Die fundamentalistischen Sektoren der katholischen Kirche machen sich diese Entwicklung zunutze. Sie wollen ihren Einfluß über die Doktrin, die allmächtige Wahrheit, und damit ihre verlorengegangene religiöse Vormachtstellung zurückerobern. Ihre „einzig wahre und einzig gültige“ Interpretation der Wunder werten diese Phänomene zum göttlichen Zeichen auf. Aus volkstümlichem Aberglauben wird hochoffizielle Lehrmeinung. Carlos Vaquero
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