: Hauptfeind Spontaneität
■ Zu dem Erzählungsband „Die sanfte Tour“ von Bernd Cailloux
Von Martin Kurbjuhn
Alle Figuren in den Erzählungen von Bernd Cailloux haben einen Hauptfeind: Spontaneität. Sie leben in der grauen Welt der reinen Kalkulation. Nicht berechenbare Emotionen sind ihnen ein Greuel. Keine Reaktion darf sie verraten. Die Reaktionen anderer Menschen werden kühl abgetastet. Extrem außengesteuert, um ein altmodisches Wort zu gebrauchen, versuchen sie, sich Verhältnissen anzupassen, die längst auch abweichendes Verhalten in hohem Maß integriert und nutzbar gemacht haben. Cailloux geht wie ein Ethnologe vor, allerdings im eigenen Land. Er beobachtet seine Figuren oder läßt sie sich selbst und andere beobachten mit einer paranoiden Energie. Er diagnostiziert eine Grundstimmung, der kaum zu widersprechen ist. Jeder prüft jeden auf seine Funktionstüchtigkeit, seine „Modernität“. Alle Einzelheiten, Worte, Gesten, Kleidungsdetails, Essensrituale usw. verwandeln sich in ebenso viele Zeichen der gelungenen oder mißlungenen Anpassung der Personen. Die „freie Gesellschaft“ erweist sich in seinen Geschichten als ein hochdifferenziertes Netz von Ge- und Verboten, die unausgesprochen bleiben, sich gewissermaßen osmotisch durchsetzen. Die Figuren sind von Tabus umstellt wie Mitglieder einer Stammesgesellschaft, aber diese Tabus treten ihnen nicht mehr als fremde Mächte gegenüber, sondern erscheinen ihnen als ihre eigenen Wünsche. Dies kann „Entfremdung“ genannt werden, aber es ist eine Entfremdung, die kein Leiden mehr hervorruft. Sie wird im Gegenteil zum unverzichtbaren Korsett eines Lebens, das ohne diese Stütze einfach auseinanderfallen würde. Das Wort Konvention wäre hier viel zu schwach.
Im Mittelpunkt der Geschichten stehen meistens Männer, Fachleute für Fremd- und Eigenwerbung, Vertreter deutscher Weltfirmen, Kulturfunktionäre, diplomatische Karrieristen usw. Ihr Alltag, ihre Denk- und Sprechweise werden beschrieben. Es handelt sich oft um angstgesteuerte Zwangscharaktere mit unterschiedlichen Verarbeitungsformen. Den Erzählungen liegt eine sehr genaue Erkenntnis verschiedener Lebensstile zugrunde. Sie haben eine angenehm undeutsche Ausstrahlung. Sie sind nicht rechthaberisch. Sie sind genau. Die Prägnanz der Sätze entspricht dem ästhetischen Programm dieser Prosa. Sie sind oft bis zur Pointe zugespitzt, manchmal mit einem Hang zur Überformuliertheit. Ihre Windungen, ihre Ironie verfolgen geschmeidig die Planungsbemühungen der Figuren, ihre Orgien der persönlichen Absicherung gegen alles Unverhoffte. Cailloux‘ Sprache spiegelt präzise das Sprachverhalten und die Art der Reflexion der Figuren und ihre bis zur vollkommenen Selbstverleugnung reichende Anpassungsbereitschaft.
Cailloux gehört nicht zu jenen Autoren, die, von der Buchrückenmentalität infiziert, blind dem Produktionsrhythmus der Verlage gehorchen. Es liegt ihm nicht, ohne innere Notwendigkeit auf Wunsch des Verlegers alle zwei, drei Jahre mit guter Vorlaufzeit fürs Herbstprogramm jeden Stoff wie Kaugummi auf mindestens 180 Manuskriptseiten zu ziehen, um das Zauberwort „Roman“ unter den Titel setzen zu können. Solche Figuren könnten gut in seinen Geschichten vorkommen.
Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß Cailloux eine reale Entwicklung erfaßt, in der die Oberflächlichkeit total gesiegt zu haben scheint. Das Ziel ist nicht die Aufhebung der Verdrängung, sondern ihre Instrumentalisierung, nicht die entwickelte Individualität, sondern die Individualität als Serie, nicht ein möglichst breites Spektrum von Gefühlsäußerungen, sondern die Verwirklichung des Ideals einer zwanghaft durchgehaltenen Mittellage. Cailloux zeigt, daß diese „freiwillig“ betriebene Normierung eine notwendige Voraussetzung ist für das Funktionieren der „Spitzenkräfte“ in Wirtschaft und Kultur. Die umfassende Leere macht sie erst wirklich bereit für neue Ideen. Es kann über alles gesprochen werden. Die Demokratie hat jeden Winkel erfaßt. Das Rauschen der Worte übertönt alle menschlichen Nebengeräusche. Cailloux‘ Figuren sind in einem Stadium gesellschaftlich erwünschter Entindividualisierung angelangt, die sie vollkommen erinnerungslos macht. Sie haben Träume von einem anderen Leben, aber diese Träume sind leider meistens schon standardisiert, was sie nicht bemerken. Die kleinste Irritation könnte ihr Kunstleben zerstören. Die Melancholie des reinen Scheins, hinter dem sich nichts verbirgt, nur eine Leere, deren Sogkraft allerdings bedrohlich ist, darf nicht durchbrochen werden.
Es geschieht wenig in diesen Geschichten. Die Art, wie sie erzählt werden, ist das Entscheidende. Die „sanfte Tour“ ist die härteste Tour überhaupt in der vielfältigen Konkurrenz, weil sie wehrlos macht, die Personen ins Leere laufen läßt, ihre Verkümmerung von vornherein einkalkuliert. Alle sind Verlierer, auch wenn sie ihrer eigenen Einschätzung nach alles fest im Griff haben. Gerade diese Haltung macht sie zu lebendigen Toten, gut erhalten, aber mumifiziert. Insofern hat das Buch von Bernd Cailloux einen moralischen Anspruch, allerdings ausgedrückt in der Form des Zynismus, der ironischen Volte, der scheinbar leichten Tonlage, deren Komplexität sich erst langsam erschließt. In den Lücken zwischen den Sätzen liegt oft das Geheimnis der Personen. Sie glauben, sich selbst genau zu kennen und beliebig steuern zu können. Sie sind ohne Tragik, zittern jedoch beim leisesten Windhauch, der kleinsten Erschütterung. Dauernd um Distanz bemüht, vor allen Dingen auch gegenüber dem eigenen Verhalten, das sie bewußt ausstellen, immer wieder überprüfen, den Erfolgsanforderungen oder was sie dafür halten anzupassen versuchen, bleiben sie doch passiv gebannt in ihre Lebensverhältnisse, die sie zu beherrschen meinen. Ihre ununterbrochene Aktivität ist ein Springen von Eisscholle zu Eisscholle, von der untergründigen Angst getrieben, den richtigen Moment zu verpassen, nicht mehr mithalten zu können. Man kann auch zu früh springen. Das ist eines der vielen Probleme. Hinter den verschiedenen Figuren in Bernd Cailloux‘ Geschichten taucht ein Grundtypus auf, dessen totale Manipulierbarkeit seiner Selbstwahrnehmung als autonom handelndes und denkendes Subjekt seltsam, unheimlich und oft komisch widerspricht.
Es sind sehr traurige Geschichten.
Der scheußliche Text auf der Innenseite des Umschlags, der einem Berliner Stadtmagazin zu entstammen scheint, hält hoffentlich niemanden davon ab, dieses Buch zu lesen. Und vielleicht auch Bernd Cailloux‘ ersten Erzählungsband Intime Paraden, der jetzt als Taschenbuch erschienen ist.
Bernd Cailloux: Die sanfte Tour, Suhrkamp Verlag, 145 Seiten, 24 DM.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen