Hauen und Stechen in Großbritannien: In London sollen Köpfe rollen
Beim Skandal um Spesenabrechnungen von Abgeordneten gerät jetzt der Parlamentspräsident in die Schusslinie. In Umfragen sprechen sich zwei Drittel für sofortige Neuwahlen aus.
BERLIN taz Zehn Tage lang haben die Abgeordneten des britischen Parlaments mit wachsendem Entsetzen verfolgt, wie die Presse genüsslich all ihre Spesenabrechnungen für den Unterhalt teils fiktiver Zweitwohnsitze veröffentlicht nun hat das Hauen und Stechen begonnen. Parlamentspräsident Michael Martin, der wegen seiner Duldung und sogar seiner Erzwingung einer laschen Abrechnungspraxis massiv in der Kritik steht, kündigte für gestern Nachmittag kurzfristig eine Erklärung im Unterhaus an. Er nahm damit einem kurz vorher vom konservativen Hinterbänkler Douglas Carswell mit Unterstützung aus allen Fraktionen eingebrachten Antrag zu seiner Abwahl den Wind aus den Segeln. Erste Spekulationen, Martin werde seinen Rücktritt in Aussicht stellen, wichen im Laufe des Tages der Vermutung, der Parlamentspräsident wolle mit eigenen Reformvorschlägen seine Haut retten.
Das hätte Martin auch bitter nötig, denn die Rufe nach seinem Sturz sind ohrenbetäubend geworden. Der schottische Labour-Politiker und ehemalige Gewerkschafter gilt schon seit seiner Wahl 2000 als Fehlbesetzung des traditionell neutralen Amts des "Speakers", der Debatten leitet und das House of Commons zur Ordnung ruft. Er soll Labour-Redner favorisieren und hat sich mehrmals gegen mehr Transparenz bei den Kostenerstattungen der Parlamentarier gewandt, auch weil er selbst betroffen wäre: Obwohl er in London gratis in einer prächtigen Dienstwohnung lebt, ließ er sich, wie jüngste Enthüllungen aufdecken, zwischen 2004 und 2008 44.753 Pfund (über 50.000 Euro) an Lebenshaltungskosten für sein Haus im heimatlichen Glasgow erstatten. Dazu kamen Taxifahrten zu seinem Fußballverein Celtic und Reisekosten von knapp 150.000 Pfund, darunter 23.073 Pfund für eine Zweitagereise mit seiner Frau auf die Bahamas. Abgeordnete, die selbstkritisch die geltenden Abrechnungsregeln in Frage stellten, wurden von ihm im Unterhaus verwarnt.
Falls die Parlamentarier Martin aus dem Amt zwingen - es wäre der erste Sturz eines britischen Parlamentspräsidenten seit 1695 - wäre er nicht das erste Opfer der laufenden Affäre. Zwei Labour-Abgeordnete sind aus ihrer Fraktion ausgeschlossen worden, Justizstaatssekretär Shahid Malik musste zurücktreten und ein hochrangiger parlamentarischer Berater des konservativen Oppositionsführers David Cameron ebenfalls. Die Führungen aller im Parlament vertretenen Parteien stehen nun unter Druck, besonders schlimme Spesenritter abzustrafen, indem sie diese zur nächsten Parlamentswahl nicht mehr aufgestellen.
In Umfragen sprechen sich zwei Drittel der Befragten für die sofortige Auflösung des Parlaments und Neuwahlen aus. Nach wie vor wird für diesen Fall mit einem hohen Sieg der Konservativen gerechnet. Das Ansehen aller etablierten Parteien und Parlamentarier hat so gelitten, dass Strategen aller Parteien in London vor Neuwahlen eher Angst haben: für Abgeordnete, die sich zur Wiederwahl stellen, wird jeder Wahlkampf zum Spießrutenlauf und nur wenige Aktivisten haben Lust, öffentlich für einen Abgeordneten zu werben.
Paradoxerweise könnte der Skandal also dem bedrängten Premierminister Gordon Brown helfen, die sichere Blamage bei den Wahlen im Juni zu überstehen und bis 2010 im Amt durchzuhalten. Vielleicht tut Brown deswegen nichts, um dem desaströsen politischen Klima in Westminister ein Ende zu setzen.
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