Harlem wählt Obama: Glaube, Sorge, Hoffnung
Harlem setzte zunächst auf Hillary Clinton. Und so richtig kann es die schwarze Bevölkerung immer noch nicht glauben, dass der nächste Präsident einer der ihren sein könnte.
Harlem ist ein Stadtviertel von New York City und liegt im Norden der Insel Manhattan. Das nach dem niederländischen Ort Haarlem benannte Viertel entwickelte sich nach dem Ersten Weltkrieg zu einem weitgehend schwarzen Wohngebiet und galt als "Black Capital of the World" - und zwar nicht nur in politischer, sondern ebenso in kultureller Hinsicht. In den 20er-Jahren entstand hier die Kunst- und Literaturbewegung "Harlem-Renaissance", 1934 öffnete das Apollo Theater, der legendäre Club für Black Music, und die Hiphop-Pioniere von Sugar Hill benannten ihr Label nach einem Harlemer Kiez.
Lange Zeit galt Harlem als Synonym für Ghetto, Armut und Gewalt; die Arbeitslosenquote lag hier über Jahrzehnte hinweg doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt. Wie andere New Yorker Stadtteile auch erlebt Harlem seit Mitte der 90er-Jahre einen Umstrukturierungsprozess, der zu einer Wiederaufwertung des Viertels, aber auch zur Verdrängung der alten Bewohner führt.
Es gibt nur ein einziges Thema an diesem kühlen und verregneten Oktobertag. "88 Schwarze wollten sie umbringen, Mama, kannst du dir das vorstellen?" Ein dürrer, langer Mann in schwarzer Lederhose mit Nietengürtel redet auf eine ältere Frau ein, die an der 125. Straße auf ihre U-Bahn wartet. Die beiden sehen nicht so aus, als hätten sie normalerweise viel miteinander zu bereden. Aber die Nachricht bringt heute alle hier zusammen. "Und dann wollten sie Obama erschießen." Die alte Dame schüttelt fassungslos den Kopf, der unter einem Wollhut steckt.
Eigentlich war das Neonazi-Komplott in Arkansas, das offenbar dilettantisch geplant war, keine große Geschichte in den US-Medien. In der New York Times stand sie auf Seite 14, rechts unten in einem kleinen Kasten. Hier, in Harlem, schlug die Meldung jedoch ein wie eine Bombe. Die tiefen Ängste, die im schwarzen Amerika seit Monaten schwelen, schienen sich schockartig zu bewahrheiten: dass es wieder so wird wie damals, als man schon einmal Hoffnung hegte; damals, in den Sechzigerjahren; damals, als die Kennedys ermordet wurden; damals, als Martin Luther King in einem Motel in Memphis eine Kugel fing und seinen Traum eines besseren Amerika, ja einer besseren Welt mit in sein Grab nahm.
"Ich habe nie meine Mutter weinen sehen", redet der Schlacks mit einer Dringlichkeit weiter, als könne das die Angst und das Entsetzen vertreiben. "Aber an dem Tag, an dem sie Dr. King ermordet haben, da hat sie bitterlich geschluchzt." Sie werden Obama aber nicht kriegen, spricht er sich dann Mut zu. Obama steht ja dafür, dass diesmal alles anders wird, und deshalb werden er und die alte Dame und alle Umstehenden und überhaupt ganz Harlem am kommenden Dienstag die Fifth Avenue hinuntertanzen.
Aber so richtig überzeugt scheint er nicht zu sein, und so haben seine Sätze auch etwas Beschwörendes. Noch ist es nämlich nicht so weit, noch kann alles Mögliche passieren. Und bevor in der Nacht zum 5. November nicht alle Stimmen ausgezählt sind und das Ergebnis amtlich ist, will man hier in Harlem nicht daran glauben, dass es tatsächlich einen schwarzen Präsidenten geben wird. Das Nazi-Komplott hat es ja wieder bestätigt. Irgendetwas wird ganz bestimmt noch dazwischen kommen.
Das befürchtet auch Kashif. Der junge, jamaikanischstämmige New Yorker ist Mitinhaber der Hiphop-Boutique "Harlem Underground" an der 125. Straße. Ein komplettes Schaufenster hat er mit einem Obama-T-Shirt in Super-Size ausdrapiert. Obama ist darauf zusammen mit Martin Luther King zu sehen, darunter prangt das berühmte King-Zitat "I have a dream". Im Verkaufsraum ist eine ganze Regalwand voll von Obama-Shirts in den verschiedensten Variationen. Bis zu 50 davon verkauft er pro Tag. Kashif und sein Kompagnon tragen allerdings Shirts mit dem derzeit hier angesagten "Cholo" Design. "Ich ziehe erst nächsten Mittwoch so ein Hemd an", sagt Kashif. Lieber nicht das Unglück provozieren.
Die Hoffnung, von der Barack Obama so gerne spricht, ist fragil in Harlem. Das schwarze Amerika ist es nicht gewohnt, an sich zu glauben. Nicht zuletzt auch deshalb hat es wohl so lange gedauert, bis Harlem sich geschlossen hinter Barack Obama gestellt hat. Noch bei der Vorwahl im Februar verlor Obama hier gegen Hillary Clinton: 53 Prozent der Stimmen bekam Hillary damals im Wahlbezirk Harlem. Hillary und Bill, das waren im Gegensatz zu Obama sichere Größen. Die beiden hatten sich schließlich schon immer für die Schwarzen stark gemacht und ganz besonders für Harlem. Als Bill Clinton nach Ende seiner Präsidentschaft die Büros seiner Stiftung an die 125. Straße verlegte, war das ein deutliches Zeichen. Und es verfehlte seine Wirkung nicht. Ein Boom folgte entlang Harlems Hauptstraße - eine Ladenkette nach der anderen verlegte Filialen hierher, Hotels wurden hochgezogen, prachtvolle alte Wohnhäuser restauriert. Harlem blühte auf.
Deshalb stellte sich auch das Harlemer Establishment hinter die Clintons. Prediger wie Calvin Butts von der mächtigen Abyssinian Baptist Church und Politiker wie der Harlemer Kongressabgeordnete Charlie Rangel unterstützen während der Vorwahlen Hillary. Gegen Obama.
Der deutschstämmige Werner Sollors, Professor für Afro-Amerika-Studien an der Harvard-Universität, erklärt das so: "Es regierte von Anfang an die Angst in Amerika, dass ein schwarzer Kandidat es sowieso nicht schaffen kann. Da war es einfacher, sich von vornherein gegen ihn zu stellen." Für die Bewohner von Harlem jedenfalls schien Hillary einfach aussichtsreicher als dieser schwarze Mann. Einige behaupteten sogar, sie sei "schwärzer". Schließlich wird Bill in Harlem noch immer als der erste "schwarze Präsident" aller Zeiten bezeichnet. "Er hat allen von uns, die Teil der amerikanischen Familie sein wollten, die Arme geöffnet", sagte Charlie Rangel noch nach Hillarys Niederlage.
Vanessa Ayers etwa war eine flammende Hillary-Anhängerin. Die stämmige schwarze Frau steht vor dem Adam-Clayton-Powell-Hochaus und wartet auf den Beginn eines Weiterbildungskurses, den sie hier besucht. Auf dem Platz vor dem hässlichen Verwaltungsbau steht eine Statue von Powell, der in den Fünfzigerjahren als erster schwarzer Abgeordneter New York im US-Kongress vertreten hat. "Ein Grund dafür, dass ich lange Hillary unterstützt habe, war, dass ich dachte, die ermordet wenigstens keiner", sagt Vanessa. Ein schwarzer Kandidat, da war sie sich sicher, kann gar nicht überleben.
Jetzt ist Vanessa natürlich wie fast alle hier in Harlem überzeugte Obama-Anhängerin. Das alte Harlemer Establishment hat sich nach der Niederlage von Hillary zähneknirschend hinter Obama gestellt und die loyalen Anhänger der Clintons in der Nachbarschaft wie Vanessa mitgezogen. Die Gefühle für Hillary und Bill sind seitdem sogar ins Gegenteil umgeschlagen. Man nimmt es den Clintons im Nachhinein übel, dass sie während der Vorwahl mitunter mit harten Bandagen gegen Obama gekämpft haben. Bills Bemerkung, dass Obamas Geschichte "eine Mär" sei, wird dem Expräsidenten als rassistisch ausgelegt. Und die Fortschritte, die die Clintons für Harlem erzielt haben, werden plötzlich als "Gentrification" dargestellt - als Verdrängungsprozess der armen schwarzen Bevölkerung.
Leah Settepani sieht den krassen Umschwung von Zuneigung zu Zorn auf die Clintons als nur ein weiteres Symptom einer tiefsitzenden Verängstigung und Verunsicherung der Schwarzen von Harlem. Die gebürtige Äthiopierin betreibt gemeinsam mit ihrem italienischen Ehemann seit zehn Jahren ein hübsches Café an der Lenox Avenue und berichtet, dass ihr diese spezielle Mischung aus Furcht, Misstrauen und der damit verbundenen Wut beinahe täglich begegnet. An die regelmäßigen Vandalisierungen ihres Betriebs, an Grafitti und eingeschlagene Fensterscheiben, hat sie sich schon beinahe gewöhnt. "Gerade jetzt in der Wirtschaftskrise sind die Menschen aber noch mehr verschüchtert als sonst."
Glaube und Hoffnung, die Dinge, die Obama predigt, fielen den Menschen hier zunehmend noch schwerer als ohnehin schon. Daher auch die allgegenwärtige Furcht, dass doch noch alles schiefgehen kann, ja beinahe die Überzeugung, dass es so kommen wird. Was bei dieser angespannten Gefühlslage passiert, wenn Obama noch verliert, mag sich Leah deshalb auch gar nicht erst ausmalen. "Dann brennen hier die Straßen", sagt sie und blickt sorgenvoll auf ihre Einrichtung.
Das Schaufenster des "Hue-Man"-Buchladens am Powell Boulevard, nur vier Blocks vom "Settepani" entfernt, ist restlos mit den beiden Büchern von Obama gefüllt - "Ein amerikanischer Traum" und "Hoffnung wagen". Nach einem Tag in Harlem denkt man insbesondere über den zweiten Titel auf einmal ganz anders nach. Hoffnung scheint hier tatsächlich ein Wagnis zu sein. Die Erfahrung der Enttäuschung ist tief in die Erinnerung des schwarzen Amerika eingebrannt, ein besseres Leben, bessere Zeiten erscheinen unglaublich unwahrscheinlich. Und doch wagen sich viele zumindest zaghaft auf dieses Terrain. 40 bis 50 Exemplare von Obamas Buch verkaufe sie jeden Tag, sagt die Besitzerin von Hue Man, Marva Allen.
Sie selbst, erzählt Allen, eine überaus herzliche schwarze Frau um die 50, halte es mit der Hoffnung so: "Es wäre idiotisch zu glauben, dass Obama alle unsere Probleme löst." Hoffnung sei für sie weniger konkret - sie sei eher ein unbestimmter Zielpunkt in einer unbestimmten Zukunft. Was Obama anbiete, sei weniger das Versprechen, dass alle Wünsche erfüllt werden, als die Möglichkeit, dass die Dinge besser werden können. "Und das ist mir allemal lieber als das, was wir jetzt haben."
Die Furcht, dass doch noch irgendetwas dazwischenkommt, kann indes auch Marva Allen nicht abschütteln. "Ich werde am Dienstag ganz früh wählen gehen", sagt sie deshalb. "Dann nehme ich mir ein Buch und lege mich ins Bett." Die Anspannung der Wahlnacht, das Zittern, dass vielleicht doch alle Umfragen verkehrt waren, erspart sie sich lieber. Stattdessen will sie einfach nur davon träumen, in einem neuen Amerika aufzuwachen.
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