Harald Welzer auf dem taz lab: Keine Panzer ohne Drehbuch

Hart in der Sache, fair in der Auseinandersetzung: Eine notwendige Debatte über Waffenlieferungen und Theoriebedarf.

Welzer mit erhobenem Zeigefinger im Sessel des taz lab Studios

Harald Welzer und Anastasia Tikhomirova kamen beide an ihre Grenzen: Eine hitzige, notwendige Debatte Foto: Anke Phoebe Peters

taz lab, 01.05.2022 | Die ganze emotionale Dimension der Diskussion über den Krieg in der Ukraine zeigte sich im Gespräch zwischen dem Sozialpsychologen Harald Welzer und der taz-lab-Redakteurin Anastasia Tikhomirova.

Unter dem Titel „Die Theoriebedürftigkeit der gegenwärtigen Lage“ wurden in aller Deutlichkeit die verschiedenen Positionen zu Russland und der Ukraine ausgetauscht. Doch zunächst sollte es erstmal darum gehen, den Titel zu klären.

So erscheine Theorie gerade anachronistisch – im Gegensatz zum „langen Sommer der Theorie“ in den 70er Jahren befänden wir uns in einer Durststrecke. Aber die Krisen der heutigen Zeit erfordern keine Seitenwahl über den Daumen, sondern einen festen theoretischen Rahmen.

Alle Krisen verbindet etwas

Welzer stellte den Begriff Krise zur Disposition: Krise, das ist die Unterbrechung von Normalität. Doch, von welcher Normalität kann die Rede sein, angesichts all der Krisen der letzten Jahrzehnte? Klimakrise, Finanzkrise, die sogenannte Flüchtlingskrise.. Keine Entspannung in Sicht.

Essentiell sei es, den Fokus auf die Zusammenhänge der Krisen zu legen. Die Folgen theoretisch greifbar zu machen. Den Druck, unter den Gesellschaften geraten, richtig zu analysieren. In der Klimakrise liege der Schlüssel, diese sei die Ursache für eine wiederkehrende Konkurrenz zwischen den Nationen – und für einen neuen Imperialismus auf dem Vormarsch.

Intensiver Schlagabtausch

Die Maßnahmen der Ampel nannte er „dreiteilige Klientelpolitik“, die nicht wirklich etwas an den gegenwärtigen Verhältnissen verändern würden. Zu diesem Zeitpunkt des Gesprächs zwischen Anastasia Tikhomirova und Harald Welzer verlief alles noch weitestgehend harmonisch, dann entwickelte sich der Talk immer mehr zu einem intensiven Schlagabtausch, den der zugeschaltete Kurator Jan Feddersen zuletzt unter „Komplexitätsverdacht“ stellte.

Tikhomirova befragte Welzer zu seinem Motiv, den gerade frisch in der Zeitschrift Emma erschienenen, offenen Brief unterschrieben zu haben. In diesem Brief fordern prominente Gesichter die Bundesregierung dazu auf, keine schweren Waffen zur Verteidigung an die Ukraine zu liefern.

Kein Recht auf Verteidigung?

Warum Welzer nicht den 86 Intellektuellen aus osteuropäischen Staaten zuhöre, die ebenfalls in einem Brief dezidiert mehr Waffen für die Ukraine fordern, wollte Tikhomirova wissen. Welzer betonte, dass es wichtig sei, zwischen der Perspektive der Betroffenen und der Perspektive der Handelnden in Deutschland zu unterscheiden.

Schließlich sei der Brief an die Bundesregierung gerichtet. Keinesfalls spreche er der Ukraine das Recht auf Verteidigung ab, aber für ihn habe Priorität, die Logik der Gewalt zu durchbrechen.

Die Diskussion gewann deutlich an Fahrt und Emotionen: Anastasia Tikhomirova, selbst aus postsowietischem Elternhaus stammend, konfrontierte Welzer immer wieder mit der Konsequenz seiner Forderung: Wenn sich die Ukraine nicht wehren kann, wird es die Ukraine bald nicht mehr geben.

Kein Drehbuch für den Krieg

Doch Harald Welzer erwiderte, dass dieser Konflikt keinem Drehbuch folgt. Niemand wisse, wie dieser Konflikt sich entwickeln werde. Umso wichtiger ist es, mit allen Möglichkeiten nach Alternativen zu noch mehr Gewalt zu suchen, alle diplomatischen Bemühungen anzustrengen.

Welzer stellt sich gegen eine „Automatisierung des Diskurses“, der einzig von einem einhelligen Schrei nach mehr Waffen bestimmt sei. Für Anastasia Tikhomirova stellte sich viel mehr die Frage, wem zugehört wird, was konkrete praktische Hilfsangebote für die Ukraine sind.

Die Verteidigung gegen Invasionen mit militärischen Mitteln ist, schon historisch betrachtet, unumgänglich. Alles in Allem: Eine intensive, kontroverse und vor allem unbedingt notwendige Diskussion.

Ein Text von Jasper Gehringhoff aus dem taz-lab-Blogger:innenteam