piwik no script img

Handbuch über Forscher und NSGeisteswissenschaft im braunen Sumpf

Deutsche Historiker streiten weiter über Nationalsozialismus in der eigenen Zunft. Ein neues Handbuch dokumentiert die Verstrickungen der Wissenschaften zwischen 1933 und 1945.

Hitlerjugend im Jahr 1938 Bild: dpa

Im September 1998 kam es auf dem Historikertag in Frankfurt am Main zum Eklat, weil erstmals vor großem Publikum und unter Anwesenheit der Medien die aktive Beteiligung deutscher Historiker an der Politik des "Dritten Reiches" thematisiert wurde: von der ideologischen Anbiederung und der widerstandslosen "Entjudung" der Universitäten bis zur Planung von Zwangsumsiedlungen, die schließlich in den Holocaust mündeten.

Hunderte von Historikern und Dutzende Lehrstuhlinhaber, darunter einige prominente Vertreter der westdeutschen Nachkriegshistorie wie Hermann Aubin, Theodor Schieder oder Werner Conze, waren mehr oder weniger darin "verstrickt". Doch jahrzehntelang haben die Halbgötter der Geschichtswissenschaft ihr Gedächtnis verloren, jede Beteiligung bestritten oder ihren Anteil bis zur Unkenntlichkeit heruntergespielt. Nach ihrem Tod übernahmen ihre Schüler oft dieselben Ausreden: von "nichts" gewusst, bei "nichts" dabei gewesen, keinerlei "Verantwortung" getragen. Wer anderes behauptete, galt als Verleumder und Nestbeschmutzer und wurde marginalisiert. Noch heute ist verblüffend, wie lange deutsche Historiker brauchten, um ausgerechnet die eigene Fachgeschichte kritisch unter die Lupe zu nehmen, und wie hoch der Anteil nichtuniversitär verankerter oder nicht in Deutschland tätiger Forscher sein musste, damit dies überhaupt voranging. Erst nach 50 Jahren blieb der Zunft nichts anderes übrig, als das Thema selbst auf die Tagesordnung zu setzen.

Seither hat sich scheinbar alles grundlegend verändert. Überall finden Ringvorlesungen, Kolloquien und Seminare statt, werden Doktorarbeiten und Forschungsprojekte vergeben. Symptomatisch für den gewandelten Zeitgeist ist die in aller Stille vollzogene Abschaffung der jährlichen "Theodor-Schieder-Gedächtnis-Vorlesungen" am Münchner "Historischen Kolleg": Sogar in dieser konservativen, einst von Schieder mit gegründeten Trutzburg ist mit seinem Namen keine Ehre mehr einzulegen.

Allein Hans-Ulrich Wehler, neben Lothar Gall der prominenteste Schieder-Schüler, will sich damit nicht abfinden. Obwohl die entscheidenden Dokumente über die Mitwirkung seines Lehrers an den Umvolkungs- und Entjudungsplänen für Polen spätestens seit 1991 bekannt waren und 1992 im Wortlaut publiziert wurden, wetterte Wehler noch jahrelang gegen "Diffamierungsattacken", um erst nach dem Frankfurter Historikertag etwas zerknirscht das Bild vom "schmerzhaften Spagat" anzubieten, mit dem sich sowohl die Nazi-Aktivitäten als auch Nachkriegsleistungen der Tätergeneration am einfühlsamsten "verstehen" ließen. Seither hat die Forschung immer neues Material ans Licht gebracht - über die Beteiligung vor 1945 und das Vertuschen danach. In der FAZ vom 11. April 2008 hat Wehler seine Apologie für Schieder erneuert, so, als ob die Zeit stehen geblieben, ja zurückgestellt worden sei.

Man könnte es als Ironie bezeichnen, dass am selben Tag, da Wehler seine Treue demonstrierte, ein dickes Buch im Berliner Literaturhaus präsentiert wurde, das ohne den Frankfurter Historikertag kaum denkbar wäre: das "Handbuch der völkischen Wissenschaften", in dem minutiös die wichtigsten Institutionen, Stiftungen, Netzwerke und Einzelpersonen dargestellt werden, die zwischen 1933 und 1945 die deutsche Wissenschaftslandschaft im Bereich von Geschichte, Soziologie, Geografie, Volkskunde usw. beherrschten. Was lange Zeit als eine Art Geheimwissen zirkulierte und nur für wenige Spezialisten überschaubar war, wird hier in kompakter Form zusammengetragen, sodass sich künftig jeder Interessierte informieren kann. Wer wissen will, wie tief die Geistes- und Sozialwissenschaften im braunen Sumpf versunken waren, obwohl sie später durch eine geschickte semantische Umkodierung das Gegenteil zu suggerieren versuchten, findet hier in über 100 Kapiteln gewaltiges Anschauungsmaterial.

Viele Beiträge basieren auf jahrelangen Archivstudien und stammen von den besten Kennern der Materie (besonders prominent: Frank-Rutger Hausmann). Manche gehen sogar für ein Handbuch sehr weit über den Forschungsstand hinaus und bieten unveröffentlichte Ergebnisse. Hervorzuheben ist die ausführliche Darstellung der bislang zu wenig beachteten NS-"Judenforschung", die in vieler Hinsicht den Kern der völkischen Wissenschaften bildete. Das Ganze ist ein gewagtes Unternehmen, zu dem man den Herausgebern umso mehr gratulieren muss, als es von keiner Universität oder Stiftung offiziell gefördert wurde.

Das schließt einige Defizite nicht aus. So fehlen leider ganze Wissensbereiche, wie vor allem die Naturwissenschaften. Auch Literaturgeschichte, Kunstgeschichte oder Archäologie werden nur indirekt thematisiert. Und wo bleibt die Philosophie? Kann ein solches Handbuch es sich leisten, nicht ein einziges Mal den Namen Heidegger zu erwähnen (von kleineren Geistern ganz zu schweigen)? Und was ist mit Hans Freyer und Gunther Ipsen, den eigentlichen Theoretikern der "Volkswissenschaft"? Bei den Historikern, die hier im Mittelpunkt stehen, fehlen so einflussreiche Figuren wie Walter Frank, Otto Brunner oder Adolf Helbok. Außerdem verschweigen selbst in diesem Buch manche AutorInnen noch immer die NS-, SS- und SD-Mitgliedschaft ihrer Protagonisten (z. B. bei Erich Maschke). Was auf den ersten Blick homogen erscheint, erweist sich als eine recht bunte Sammlung, an der sogar der Vorsitzende der einst von Nazi-Historikern gegründeten "Ranke-Gesellschaft" mitwirken darf. Doch allen Lücken und Schwächen stehen so viele verdienstvolle Seiten gegenüber, dass man dieses Buch - zehn Jahre nach dem Frankfurter Historikertag - als neues Referenzwerk nur begrüßen kann.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!