Handball bei Olympia: Stimmt. Scheiße. Sport ist Ibsen
Das DHB-Team um Alfreð Gíslason konnte in Paris zeigen, was diesen Sport so einzigartig macht. Und was Fußball längst verloren hat.
M ein persönlicher Olympiamoment war, als Alfreð Gíslason zu Beginn einer Auszeit sagte: „Wir spielen Überzahl, okay?“ und Juri Knorr (der im Gegensatz zu Gíslason im übrigen gar nicht knorrig wirkt, sondern strebsam und nett) dann antwortete: „Wir sind Unterzahl“ und Gíslason dann hoch zur Anzeigetafel nicht etwa lugte, sondern spähte, um dann, nach drei Sekunden, die seine alten Augen brauchten, um sich zu justieren, zu sagen: „Stimmt. Scheiße.“
Und besonders schön finde ich das „Stimmt“.
Dahinter stehen zwei Geschichten. Die eine ist jene, wie sich diese Mannschaft überhaupt für Olympia qualifiziert hat und dann auch der Weg, den sie genommen hat, um ins Finale zu kommen. Handball ist eine jener Sportarten, in denen immer alles am seidenen Faden hängt, eine Sportart, in der der Konjunktiv zwei zu seinem Recht kommt: Es könnte auch ständig anders gekommen sein. Früher war diese Art der Spannung dem Fußball vorbehalten, als einer der ganz wenigen Sportarten, in denen auch hoffnungslos unterlegene Mannschaften gegen sehr viel bessere Gegner*innen gewinnen können.
Die verschiedenen Fußballverbände haben in ihrem Willen, aus zwei, drei Handvoll Clubs jeweils eigene weltweit scheinende Marken zu machen, dieses chaotische Moment vollständig drangegeben (weswegen Fußballfans inzwischen lieber über die Performance ihrer Manager diskutieren als über den Zauber, der von irgendeinem Spieler ausgeht). Der Kapitalismus neoliberaler Spielart hat den Fußball furchtbar profanisiert.
Im Handball ist es so: Schwächere Mannschaften verlieren auf jeden Fall, wenn aber Mannschaften ungefähr gleich stark sind, entscheiden so kryptische Merkmale wie die Tagesform. Auch eine Tagesform ist ein komplexes Gebilde, aber immerhin wurde das Thema „Spielglück“ noch nicht völlig aus dem Spielgeschehen entfernt. Dass die deutsche Nationalmannschaft überhaupt bei Olympia antrat, ja antreten durfte, verdankt sie einem denkbar knappen Sieg gegen Österreich. Dieser ganze Hype hing an zwei, drei Würfen; zwei, drei Reflexen. Mehr nicht.
Es stimmt, dass diese Mannschaft sich a posteriori den Platz bei Olympia verdient hat, auch die Medaille verdient hat; sie hat sich gegen eine Menge Mannschaften durchgesetzt, die sie in den vergangenen Jahren immer wieder vor unlösbare Probleme stellten, und das mit einem relativ jungen Team, das seine Prime vermutlich erst noch vor sich haben wird (wenn es Glück hat). Der fantastische Sieg gegen Frankreich im Viertelfinale, der bis eine Zehntelsekunde vor Abpfiff völlig unwahrscheinlich schien, war genau so ein Moment, den Handballfreund*innen so sehr schätzen: Die Peripetie eines Spiels kann wenige Momente vor dem Schlussakt zuschlagen. Sport ist modernes Drama. Handball ist Ibsen.
Das ist das eine: Diese Mannschaft hat deswegen überzeugt, weil sie gar nicht überzeugend war. Sie hat ihre Spiele nicht runtergespielt, sondern musste immer wieder strampeln, sich immer wieder neu erfinden. Und das ist die zweite Geschichte dieser Silbermedaille: Alfreð Gíslason hat das aufs Prächtigste gemanagt.
Aus einer Mannschaft, die vom Potenzial vielleicht Viertelfinale war, hat er einen Finalteilnehmer gemacht, nicht, indem er sie tyrannisierte oder bestimmte, was Sache ist, sondern indem er sie führte, mit Nachsicht und Präsenz, Strenge und Güte. Wer Gíslason vor 15 Jahren erlebte, kann das kaum glauben: Damals war er ein dumpfer Diktator, besoffen von all den Titeln, die er holte, getragen von den besten Handballern der Welt, die man ihm zur Verfügung stellte. Inzwischen ist er viel weicher geworden, ohne altersmilde zu sein, und auch das ist eine dieser schönen Geschichten, die Olympia geschrieben hat.
Gewonnen hat freilich am Ende Dänemark, es hätte aber jede Mannschaft gewonnen, die Mathias Gidsel in ihren Reihen hat. Schade, scheiße, aber stimmt schon so.
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